Der nervöse Volkskörpers

In den Geschlechterverhältnissen spiegelt sich die nationale Identitätsfindung wider. Warum hält Deutschland immer noch am „Blutrecht“ fest?  ■ Von Christina von Braun

Historisch gesehen, ist der Zeitabschnitt, in dem sich die Selbstbestimmung von Frauen in den Industrieländern durchsetzte, ungewöhnlich kurz. [...] Normalerweise vollziehen sich Mentalitätsveränderungen erheblich langsamer als staatliche oder außenpolitische Entwicklungen. Um so bemerkenswerter ist die Tatsache, daß sich innerhalb von weniger als 100 Jahren ein Wandel vollzogen hat, der das Wahlrecht für Frauen, die Selbstbestimmung in Wirtschafts- und Unternehmensfragen sowie die Zulassung von Frauen zu höherer Bildung und zu akademischen Berufen bzw. zu Staatsämtern wie dem der Richterin oder der Politikerin mit sich brachte; daß Frauen als Naturwissenschaftlerinnen, als Schriftstellerinnen, Philosophinnen in der Öffentlichkeit auf Akzeptanz stoßen.

Für die Tiefe der Veränderung, die sich in der Geschlechterordnung vollzogen hat, sind die 100 oder 150 Jahre erstaunlich kurz. Noch um die Jahrhundertwende tritt in den Debatten, die die angesehensten Wissenschaftler Deutschlands über die Frage führten, ob Frauen zu einem wissenschaftlichen Studium befähigt seien, eine Argumentation zutage, die uns heute fremd erscheint, in ihrer Zeit aber sehr einflußreich war. Die Debatten wurden ausgelöst durch die Tatsache, daß die Universitäten fast aller anderen Länder Europas und der USA in den siebziger oder achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts den Frauen ihre Tore geöffnet hatten. In Deutschland hingegen, wo Frauen bis zur Reichsgründung in einigen Lehrveranstaltungen zumindest als Gasthörerinnen geduldet wurden, waren die Universitäten nach 1871 hermetisch abgeriegelt worden. Die Argumente dafür sind es wert, näher betrachtet zu werden.

Die Gegner des Frauenstudiums beriefen sich auf angebliche „Naturgesetze“, die die Befürworter des Frauenstudiums in besonderen Ausnahmefällen zu umgehen bereit waren. Zu denen gehörte etwa Max Planck. Er schrieb, daß, „wenn eine Frau, was nicht häufig, aber doch bisweilen vorkommt, für die Aufgaben der theoretischen Physik besondere Begabung besitzt und den Trieb in sich fühlt, ihr Talent zur Entfaltung zu bringen“, er ihr „den probeweisen und stets widerruflichen Zutritt zu meinen Vorlesungen und Übungen gestatten“ werde. Allerdings halte er es für verfehlt, „Frauen zum Studium heranzuziehen“. Denn „Amazonen sind auch auf geistigem Gebiete naturwidrig“. [...]

Schärfer formulierten es die grundsätzlichen Gegner des Frauenstudiums. Einige von ihnen führten sogar erbliche Schäden an, die sich durch die wissenschaftliche Tätigkeit von Frauen ergeben könnten. „Ich denke dabei“, so schreibt ein Mediziner, „an die hereditäre Übertragung von der unter den studierenden Mädchen ohne Zweifel erheblich zunehmenden Kurzsichtigkeit und der nervösen Disposition.“ Im Zentrum der Argumente stand nicht etwa der Kopf, sondern der Unterleib der Frauen – in allen Disziplinen. [...]

Der große liberale Mediziner Rudolf von Virchow sprach sich gegen die Gleichberechtigung aus, denn „alles, was wir an dem wahren Weibe Weibliches bewundern und verehren, ist nur eine Dependenz der Eierstöcke“. Der Nationalökonom Lorenz von Stein vertrat die Ansicht, daß „die Frau, die den ganzen Tag hindurch am Pulte, am Richtertisch, auf der Tribüne stehen soll, (...) sehr ehrenwert und nützlich sein (kann), aber sie ist keine Frau mehr, sie kann nicht Mutter sein“. Ähnlich der Historiker Heinrich von Treitschke: „Durch die Gleichberechtigung der Frau mit dem Manne“, schrieb er, „ergibt sich von selbst die Auflösung aller häuslichen Liebe und Zucht, und die Ehe verwandelt sich in ein Konkubinat.“

Der Rechtshistoriker Otto Gierke sah im Falle eines Frauenstudiums sogar den Untergang des preußischen Staates voraus: „Weibliche Rechtsanwälte und Notare? Oder weibliche Richter? Oder weibliche Staatsanwälte? Oder weibliche Verwaltungsbeamte? Mit jedem Schritt vorwärts beträte man hier die abschüssige Bahn, auf der es keinen Halt mehr gibt, bis die Austilgung der Unterschiede der Geschlechter im öffentlichen Recht erreicht ist. (...) Unsere Zeit ist ernst. Das deutsche Volk hat anderes zu thun, als gewagte Versuche mit Frauenstudium anzustellen.“

Daneben gab es wenige Wissenschaftler, die sich bedingungslos für ein Frauenstudium aussprachen. Interessanterweise ging es auch bei ihnen um die biologische Beschaffenheit der Frau. Ihre Argumente lassen sich in der Überlegung zusammenfassen, die der evangelische Theologe Hermann von Soden anstellte: „Ist das, was wir alle als Hauptaufgabe der Frau ansehen, so wenig tief in ihrer Natur begründet, da sie durch wissenschaftliches Studium und öffentliche Berufsthätigkeit den Sinn dafür verlieren könnte –, so wäre es nur doppelt eine Gewalttätigkeit, wollte man sie auf die Aufgabe beschränken.“

Sowohl die Aussagen der Wissenschaftler, die sich gegen, als auch die derer, die sich für ein Frauenstudium aussprachen, sind aus zwei Gründen bemerkenswert: Erstens sind diese Aussagen nur 100 Jahre alt; zweitens richtet sich in beiden Fällen das Interesse auf die Gesetze der Natur und, seltener, auf die Gefahr einer „Atomisierung der Gesellschaft“, also eine Auflösung der Ordnung, die das Leben des Gemeinschaftskörpers regelt.

Eine solche Berufung auf angeblich unveränderliche biologische Gegebenheiten sowie auf eine Gefährdung der Gemeinschaft fand in den Debatten anderer Länder [...] nicht statt. Es ist ein deutsches Spezifikum und wirkt sich aus bis in die Geschichte der beiden Deutschlands nach 1945. So konnte man in den Debatten der sechziger Jahre um die Erwerbstätigkeit der Frau in Westdeutschland genau dieselben Argumente hören. Auch in der DDR blieben Haushalt und Kinderversorgung [...] weitgehend Aufgabe der Frau.

Warum aber gerade in Deutschland? [...] Der Zulassung von Frauen zum Studium bzw. den Debatten um die Frage der Gleichberechtigung der Geschlechter waren zwei Neuerungen vorausgegangen, die andernorts zu einem entscheidenden Wandel in der Geschlechterordnung geführt hatten: Das eine war eine genauere Kenntnis der Zeugungsvorgänge und das andere ein neues Konzept des Gemeinschaftskörpers. [...]

Das Wissen um die Vorgänge bei der Befruchtung war relativ neu. Noch bis 1657 [...] war die Zeugung ein unerklärbarer Vorgang, über den es die unterschiedlichsten Spekulationen gab. Erst Anfang des 19. Jahrhunderts wurde durch die Zell- Lehre und durch die Entdeckung des Eisprungs eine konkrete Grundlage für die Befruchtungstheorie geschaffen. Um 1875 verschuf eine verbesserte Mikroskopiertechnik Einsicht in den Vorgang der Verschmelzung von Sperma und Eikern. Dieser Erkenntnisgewinn provozierte neue Phantasien über eine [...] gesteuerte, den Zufall tilgende Regeneration.

Die Phantasien an sich waren nicht neu. Schon Platon hatte in seinem „Staat“ gefordert, daß die menschliche Fortpflanzung einer rationalen Planung der Auslese und Züchtung unterworfen werde und daß nur die „Besten“ das Recht erhalten sollten, Nachkommen zu zeugen. [...]

Waren aber solche Vorstellungen für Platon noch mehr oder weniger Gedankenspiel, so rückten sie mit dem Industriezeitalter, als man die Gesetze der Zeugung durchschaute und hoffte, sie bald im Reagenzglas nachvollziehen zu können, in greifbare Nähe. So fanden die Hoffnungen auf eine geplante und homogenisierte Reproduktion schon bald in den Theorien der Eugeniker ihren Ausdruck.

Die Kenntnis der Zeugungsvorgänge brachte die Möglichkeit, Reproduktion und Sexualität als voneinander unabhängig zu denken. War die Sexualität bis dahin als eine notwendige „Begleiterscheinung“ der Reproduktion erschienen und deshalb mit der biologischen Beschaffenheit des Individuums zwingend verbunden worden, so konnte sie nun als von den regenerativen Kräften getrennt wahrgenommen werden, als selbständiger „Trieb“, der auch da sein Unwesen trieb, wo der Reproduktionstrieb kein Ziel zu verfolgen hatte – etwa bei der Homosexualität.

An genau dieser historischen Schwelle entstehen die Sexualwissenschaften. Mit dieser Abkoppelung des Sexualtriebs von der Biologie waren die Voraussetzungen dafür geschaffen, daß aus den biologischen Kategorien Sexualität und Geschlecht kulturelle [...] Kategorien werden konnten. Genau das geschah um die Jahrhundertwende, und die Entwicklung vollzog sich parallel zur Debatte um Frauenstudium und Gleichberechtigung, und vornehmlich in Berlin, wo die Sexualwissenschaften – mit Iwan Bloch, Magnus Hirschfeld, Albert Eulenburg – ihr Zentrum fand.

Im Zuge dieser Entwicklung wurde aber nicht nur die Sexualität, sondern auch das Geschlecht selbst zunehmend als Produkt kultureller Zuschreibung verstanden, etwa in den Schriften des Juristen Karl Heinrich Ulrichs, der schon Mitte der 1860er Jahre die These vom „Dritten Geschlecht“ verkündete. Magnus Hirschfeld sollte später den Begriff durch den der „sexuellen Zwischenstufen“ ergänzen. Mit anderen Worten: Gegen Ende des 19. Jahrhunderts – mitten im Kampf um Frauenstudium und Gleichberechtigung – trat neben die traditionelle biologische Definition des Geschlechts eine kulturelle oder psychologische, die besagte, daß man zwar biologisch ein Mann sein, aber wie eine Frau empfinden könne – und umgekehrt.

Es versteht sich, daß die beiden Definitionen von „Geschlecht“ [...] schwer miteinander zu vereinbaren waren; ihre Theoretiker bekämpften sich zutiefst. Das offenbarte sich nicht nur in den Auseinandersetzungen für oder gegen das Frauenstudium, sondern auch in unterschiedlichen Theorien innerhalb der Sexualwissenschaften. Am deutlichsten wurde dies im Verhältnis zur Homosexualität. Hier kreiste die Diskussion um genau dieselbe Frage wie die um das Frauenstudium: Ist das Sexualverhalten des Homosexuellen biologisch (mithin unveränderbar) oder kulturell bedingt? Sind Frauen aus biologischen (mithin unveränderbaren) Gründen aus dem Studium auszuschließen, oder handelt es sich um kulturelle und mithin transformierbare Gesetze?

Daß diese Frage von politischer und gesellschaftlicher Brisanz war, geht auch aus der Tatsache hervor, daß zeitgleich genau dieselbe Diskussion über das Bild des „Juden“ geführt wurde – eine Debatte, die ebenfalls vor allem in Deutschland und nicht minder heftig war als die um das Frauenstudium. Auch hier ging es implizit um die Frage nach dem Zugang von Juden zur Universität, zu den öffentlichen Ämtern und den akademischen Berufen.

Zwar hatten Juden, soweit männlichen Geschlechts, seit der Reichsgründung das Recht, an deutschen Hochschulen zu studieren. Aber die Berufung auf einen Lehrstuhl war ihnen weitgehend verwehrt, wie auch viele Beispiele aus der Geschichte der Berliner Universität beweisen: etwa das von Georg Simmel, dem es nie gelang, in Berlin auf einen Lehrstuhl berufen zu werden, obgleich seine Vorlesungen zu den kulturellen Ereignissen der Hauptstadt gehörten. [...]

In der Diskussion um den „Juden“ ging es um eine ganz ähnliche Frage wie bei der um das Frauenstudium und um die Homosexualität: Ist die „jüdische Identität“ biologisch oder kulturell definiert? Die rassistischen Antisemiten vertraten zwei unterschiedliche Positionen – mit demselben Ergebnis. Für die einen war es die unveränderbare „Rasse“, und für die anderen war es der unveränderbare „jüdische Geist“, die den „Juden“ definierten. Dementsprechend umschrieben die Antisemiten den „jüdischen Geist“ – seit der Dreyfus-Affäre meist mit dem Schimpfwort „Intellektualität“ bedacht – und das jüdische Blut mit genau denselben Vokabeln: „fremd“, „giftig“, „zersetzend“ zum Beispiel. Ein bekannter antisemitischer Kalendervers lautete: „Hinfort mit diesem Wort, dem bösen,/ Mit seinem jüdisch-grellen Schein!/ Nie kann ein Mann von deutschem Wesen,/ Ein Intellektueller sein.“

Die Bilder einer „jüdischen Gefahr“ spielten vor allem im Kontext der Assimilation eine wichtige Rolle. Nicht die orthodoxen, sondern die assimilierten Juden – diese „Fremden“, denen man ihre Fremdheit nicht mehr ansehen konnte, die Kaftan, Bart und Schläfenlocken abgelegt und sich mit dem „Wirtsvolk“ vermischt hatten – galten als Gefährdung der Gemeinschaft. Und die Darstellung ihrer Gefährlichkeit war von Sexualbildern durchsetzt. Das heißt, die Klischees vom „unsichtbaren Juden“ vermischten sich mit den Feindbildern eines neuen Frauentypus, bei dem sich die traditionelle biologische Definition von Weiblichkeit zu verflüchtigen schien.

So verkündete der „Rassenforscher“ Otto Hauser, auf dessen Geschichte des Judentums sich später die Nationalsozialisten berufen sollten, in seinem Aufsatz Juden und Deutsche: „Bei keinem Volk findet nun man soviel Weibmänner und Mannweiber wie bei den Juden. Deshalb drängen sich so viel Jüdinnen zu männlichen Berufen, studieren alles mögliche, von der Rechtswissenschaft, Heilkunde bis zur Theologie [...]. Betrachtet man diese jüdischen Frauen auf die sekundären Geschlechtsmerkmale hin, so kann man bei gut zwei Dritteln von ihnen deren Verwischung feststellen. Der deutliche Bartanflug ist überaus häufig, die Brüste dagegen unausgebildet, das Haar bleibt kurz.“ Im deutschen Kulturkreis hat sich ein modernes Verständnis von Gemeinschaft nie durchsetzen können, anders als in Ländern wie Frankreich oder den USA. Emanzipierte Frauen galten im Deutschen Reich als staatsgefährdend – wie auch Juden und Homosexuelle. Die Teilung Deutschlands hat eine Modernisierung der Gesellschaft blockiert. In der BRD wie in der DDR profilierten sich ökonomisch verschiedene Systeme. Die Verhältnisse der Geschlechter blieben allerdings gleich traditionell.

Das heißt, das Bild einer Aufhebung der Sexualdifferenz überlagerte sich mit dem Bild der deutsch-jüdischen Assimilation: Die Verwischung der Grenzen zwischen Männern und Frauen wurde gleichgesetzt mit der zwischen Juden und Deutschen, Assimilation mit dem Geschlechtsakt verglichen. So benutzt Werner Sombart, Wirtschaftshistoriker, [...] das Begriffsbild der „Paarung“ zur Beschreibung der „Vermischung“ von Deutschen und Juden: „Ich wünsche es im Interesse unserer deutschen Volksseele, daß sie von der Umklammerung durch den jüdischen Geist befreit würde [...]. Ich wünschte, daß die ,Verjudung‘ so breiter Gebiete unseres öffentlichen und geistigen Lebens ein Ende nähme: zum Heil der deutschen Kultur, aber ebensosehr auch der jüdischen. Denn ganz gewiß leidet diese ebensosehr unter der unnatürlichen Paarung.“

Kurz: Verhandelt wurde um die Jahrhundertwende, ob der Körper – der geschlechtliche Körper wie der Körper des „Juden“ – biologisch zu definieren oder ein kulturelles Konstrukt ist. Viele Frauen und viele Juden setzten sich für eine „kulturelle“ Definition des Körpers ein. Für die einen bedeutete sie Zugang zu höherer Bildung und Berufen; für die anderen Befreiung von den Klischees, die die [...] Antisemiten an den Körper des Juden zu haften versuchten.

Das hatte u.a. zur Folge, daß Frauen wie Henriette Schrader-Breymann und Helene Lange den Kampf um Frauenbildung mit dem Schlagwort der „geistigen Mütterlichkeit“ führten. Diese sei „nicht allein an die eigene Kinderstube, nicht allein an die physische Mütterlichkeit“ gebunden, sondern werde überall wirksam, wo „die Frau auch außerhalb des Hauses zum mütterlichen Wirken berufen“ sei. Die Mädchenbildung solle dieser „psychischen Mütterlichkeit“, die zur Hebung der nationalen Sittlichkeit beitrage, Rechnung tragen. [...] Solche Bilder einer weniger biologischen als „geistigen Weiblichkeit“ trugen einerseits dazu bei, die Weichen für die sozialpädagogischen Ausbildungs- und Berufszweige zu stellen, die bis heute die Bildungs- und Berufswege von Frauen in Deutschland prägen; andererseits entsprachen sie aber auch dem neuen Trend, Psyche und biologisches Geschlecht als voneinander getrennt zu sehen.

Warum aber hatte die Frage einer Definition des „Körpers“ um die Jahrhundertwende in Deutschland eine derartig politische Brisanz angenommen? Eine Antwort darauf gibt ein Blick auf den Wandel der Vorstellungen vom Gemeinschaftskörper, der sich mit der Industrialisierung vollzog. Dieser Wandel erklärt auch, warum die Gegner des Frauenstudiums und der Assimilation der Juden im großen und ganzen identisch waren und neben den „Naturgesetzen“ auch die Gefahr einer Auflösung der Gemeinschaft beschworen – „Sandhaufen“, „Atomisierung der Gesellschaft“ waren die Schlagworte dafür.

Was ist ein Gemeinschaftskörper? Alle Gesellschaften [...] versuchen, durch die Analogie zum Individualkörper der eigenen Gemeinschaft den Anschein von Geschlossenheit und Zusammengehörigkeit zu verleihen. Auf diesem Bedürfnis beruhen viele kulturelle Phänomene wie die Reinheitsgesetze, die in jeder Gesellschaft anders definiert werden, oder all die Gesetze, die das Sexualverhalten und das Geschlechterverhältnis regeln. Dabei spielen Bilder des Blutes eine zentrale Rolle.

Von diesen Bildern leitet sich zumeist ein gemeinsamer Ursprung, die Herkunft von einer historischen oder mythischen Urgestalt, ab. Durch das Bild von der Gemeinschaft des Blutes soll etabliert werden, daß die vielen individuellen Körper in Wirklichkeit einen einzigen Körper bilden, weil dasselbe Blut durch alle Adern fließt. Eine solche Vorstellung nahm mit den rassistischen Vorstellungen vom „Volkskörper“ und von der „arischen Rasse“ säkulare Züge an – und sie fand auch in den Vorstellungen von der „Natur“ des jüdischen oder des weiblichen Körpers seinen Ausdruck.

Daneben war aber ein neues Konzept vom Gemeinschaftskörper entstanden, das auf völlig anderen Voraussetzungen beruhte. Ich möchte es mit dem Terminus des „Medialen Kollektivleibs“ umschreiben. Während die Ideologie des „Volkskörpers“ das gemeinsame Blut, die gemeinsame Rasse in den Vordergrund rückten, stand beim „medialen Kollektivleib“ die psychische oder (um einen modernen Ausdruck zu benutzen) die vernetzte Gemeinschaft im Mittelpunkt. Diese Gemeinschaft verband nicht ein gemeinsames Blut, sondern ein gemeinsames Nervensystem, das aus dem dichten Netz von Beschleunigungs- und Verkehrstechniken, von Telekommunikationsmitteln und von Währungen bestand. Eines, das die Regionen, Städte und Individuen zusammenschloß und „synchronisierte“.

Die Vorstellung eines durch die Medien erstellten psychischen, kulturellen (oder virtuellen) Sozialkörpers schuf einerseits neue Vorstellungen von der Zusammengehörigkeit und Organisation der „Gemeinschaft“, die teilweise im Widerspruch zur traditionellen Vorstellung vom „Gemeinschaftskörper“ stand, entsprach andererseits aber der neuen kulturellen Definition des Körpers. Besonders deutlich läßt sich die neue Vorstellung vom Gemeinschaftskörper am Beispiel der Pazifisten darstellen, die [...] im Deutschen Reich und in der Donaumonarchie erheblich weniger stark vertreten waren als etwa in England oder Frankreich. In Deutschland und Österreich hielt man doch eher am traditionellen Bild des physiologisch definierten „Volkskörpers“ fest. [...]

Die Pazifisten hingegen griffen auf das Bild des „Nervensystems“ zurück, um ihr Ideal der Gemeinschaft zu kennzeichnen. Es war ein Vorgriff auf das, was heute unter dem Schlagwort der „globalen Vernetzung“ geführt wird. Noch wenige Jahre vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs sah Alfred H. Fried, einer der ersten Friedensnobelpreisträger, in diesem „Nervensystem“ eine Garantie für den Weltfrieden.

Er schrieb 1905: „Eisenbahn und Dampfschiffe durchqueren die Welt und führen die Kultur in die entlegensten Gefilde, wie die Adern das Blut in die Teile des Körpers, und Telegraph und Telephon haben sich zum Nervensystem der zivilisierten Welt entwickelt.“ [...] Deutlich wird, daß hier zwei Konzepte vom Gemeinschaftskörper miteinander konkurrieren: Dem einen Konzept liegt die Vorstellung vom „gemeinsamen Blut“ zugrunde, das andere beruhte auf dem Bild einer Gesellschaft als „Nervensystem“. Dieses zweite Konzept war der Industrialisierung, dem Kapitalismus und der Moderne mit ihren technischen Neuerungen und Formen der Beschleunigung geschuldet und spielte in allen Ländern – außer in Deutschland – eine wichtige Rolle.

Fand das neue Konzept des Gemeinschaftskörpers im Bild des „Nervensystems“ seinen Ausdruck, so richtete sich seine Diffamierung gegen die „moderne Nervosität“, die „nervöse Gesellschaft“ bzw. den „nervösen Typus“ – ein Begriff, der um die Jahrhundertwende im deutschsprachigen Raum hohen Kurs hatte: Mit diesem Begriff wurden Erscheinungen umschrieben, die dem Bereich des psychisch Krankhaften oder Krankmachenden zugeschrieben wurden. Dazu gehörte das Leben in der Großstadt mit seiner Rastlosigkeit und seinen rasch wechselnden Rhythmen, mit den undurchschaubaren Beziehungsgeflechten, die das Stadtleben zwischen den Menschen wob (immer wieder dargestellt am Beispiel von Berlin – mehr als dem von London oder Paris), mit seinen „schrägen“ Typen [...]. Der Begriff der „Nervosität“ wurde auch auf die Frauen übertragen, die für das Wahlstimmrecht oder um das Recht kämpften, an den Universitäten zugelassen zu werden. „Die Nervosität unserer Zeit“, so befürchtete ein Theologe, werde durch das Frauenstudium zunehmen.

Ein Mediziner wiederum hielt die Frauen zwar für fleißiger als Männer: „Gerade dieser Fleiß aber, welcher die Veranlagung zum Teil ersetzen soll, wird es dann wieder sein, welcher den zu Nervenkrankheiten besonders disponierten Frauen schädlich wird [...].“ Das heißt, Frauen, die die Aneignung von Wissen oder eine Berufstätigkeit der eigenen Wahl anstrebten, galten nicht nur als „unweiblich“ und „widernatürlich“; sie wurden auch betrachtet als das Produkt der Moderne. [...] So suchten vor allem in Deutschland viele in den „Naturgesetzen“ Schutz vor den Innovationen der Moderne.

Der Begriff des „nervösen Typus“ fand Anwendung auf Menschen, deren Grundmuster darin bestand, daß sich ihre Erscheinung und ihr Verhalten jeder eindeutigen Zuordnung widersetzten, darunter den tradierten biologischen Mustern von „Männlichkeit“ und „Weiblichkeit“. Deshalb verband sich das Bild körperlicher Undefinierbarkeit [...] mit dem Bild des assimilierten „Juden“, dem die gleiche „Undefinierbarkeit“ unterstellt wurde. Hysterie, Neurasthenie, Nervosität wurden nicht nur als typisch weibliche, sondern auch als typisch jüdische Krankheiten angesehen.

Interessanterweise erweist sich mit dem ausgehenden 20. Jahrhundert das, was Ende des 19. Jahrhunderts noch mit dem Begriff der „Nervosität“ diffamiert wurde, als Mainstreamdiskurs über Geschlechtlichkeit und über den Körper. Zumindest in der amerikanischen und französischen Theorie. Heute gibt es einen breiten Konsens darüber, daß das Geschlecht als „kulturelles Konstrukt“ zu verstehen sei. Der Körper selbst erscheint nurmehr als eine Hülle [...], als Spielzeug geistiger Triebe. Solche Vorstellungen bahnten sich nicht nur mit den ersten medialen Techniken der Telekommunikationsmittel an; sie sind auch den technischen Sehgeräten eingeschrieben, die die Sehgewohnheiten und die Wahrnehmung des Selbst und des Anderen verändert haben.

Die Reproduktionstechniken des Industriezeitalters führten zu einer Vereinheitlichung des Blicks, und sie reflektieren darin die Phantasien der Homogenisierung, die mit der Herrschaft über die menschliche Reproduktion einhergingen. Diese Phantasien erzählen von dem Verschwinden der biologischen Differenz. So ist für den Cyberspacetheoretiker Gullichsen Walser die Reise in die Körperlosigkeit nicht nur technisch beherrschbar, sondern auch ein Vergnügen: „Vielleicht fühlen Sie sich zunächst in einem Körper wie Ihrem eigenen am wohlsten, doch wenn Sie immer größere Anteile Ihres Lebens und Ihrer Geschäfte im Cyberspace abwickeln, wird Ihre eingeschliffene Vorstellung von einem einzigen und unveränderlichen Körper einem weit flexibleren Körperbegriff weichen – Sie werden Ihren Körper als verzichtbar und, im großen und ganzen, einengend empfinden [...].“

Es hat sich also mit der Industrialisierung ein Wandel vollzogen, bei dem ein neues Konzept vom „Körper“ entstanden ist – und dieses bezieht sich sowohl auf den individuellen Körper, der sich einer biologischen Festlegung entzieht, als auch auf den Gemeinschaftskörper, in den das Individuum eingebunden ist. Auch der Gemeinschaftskörper wird weniger physiologisch als kulturell und medial bedingt definiert – eben als „Nervensystem“.

Deutschland jedoch – zumindest in der Haltung, die historisch wirkungsmächtig geworden ist – hat diesen Wandel weniger stark vollzogen als andere Länder. Das Gemeinschaftskonzept des Kaiserreichs basierte auf der Ideologie einer physiologischen Definition der Nation. Die Versuche der Weimarer Republik, eine neue kulturelle Definition zu etablieren, konnten sich nicht behaupten gegen die Gewalt, mit der sich unter den Nationalsozialisten die Idee eines „Volkskörpers“ wieder durchsetzte. Diese Erbschaft haben beide Deutschlands angetreten. Das zeigt sich auch am Festhalten am Jus sanguinis („Blutsrecht“) für die Bestimmung der Nationalität.

Es zeigt sich aber auch am Festhalten an traditionellen Geschlechterrollen, die in beiden Deutschlands eine einmalige Disparität geschaffen haben: auf der einen Seite ein moderner Staat, eine moderne Gesellschaft, die mit allen technischen Neuerungen des späten 20. Jahrhunderts ausgerüstet ist; auf der anderen Seite eine tiefsitzende Ideologie der „Mütterlichkeit“, die es im Westen wie im Osten Frauen schwer machte, Kinder zu haben und eine berufliche Karriere anzustreben – ein Phänomen, dem ich in Frankreich so nie begegnet bin. Mag sein, daß die niedrigen Geburtenraten in beiden Deutschlands gerade mit dem Festhalten an solchen traditionellen Geschlechtervorstellungen zu tun hatten.

Insgesamt kann man sagen, daß die Modernisierung der Gemeinschaft durch die Teilung selbst eine Behinderung erfuhr. Denn wäre der eine von beiden Staaten dem modernen Konzept der Gemeinschaft gefolgt, wäre der Kontakt zum anderen Deutschland immer schwieriger geworden. Unbewußt spürte man, daß man damit die Möglichkeit der Wiedervereinigung [...] aufs Spiel gesetzt hätte. Diese Befürchtung [...] erklärt vielleicht, warum die Auseinanderentwicklungen der beiden Deutschlands einerseits tiefgreifend sind [...], die Differenzen auf dem Gebiet der Geschlechterordnung aber nicht so groß sind. Deutschlands Teilung verhinderte die öffentliche Diskussion um die deutsche Vergangenheit; ebenso behinderte sie auch die sozialen Transformationsprozesse, die zu einem neuen, den technischen Veränderungen entsprechenden Konzept der Gemeinschaft führen. [...]

Jetzt könnte der Blick frei werden für Transformationsprozesse, die sich auf die Zukunft beziehen und die sowohl einen Wandel der Vorstellung vom Gemeinschaftskörper als auch der Geschlechterrollen in dieser Gemeinschaft beinhalten. Diese Veränderungen werden kommen oder sind schon dabei, sich zu vollziehen, unabhängig davon, was die Parteien entscheiden. Aber je genauer man sie kennt und darauf vorbereitet ist – und in dieser Hinsicht ist der Blick in die Vergangenheit immer sehr hilfreich –, desto geringer wird die Gewalt sein, mit der sie sich vollziehen.

Leicht gekürzte Fassung eines Vortrags bei der Bundestagsanhörung zur Situation der Frau im geteilten und vereinigten Deutschland. Christina von Braun, 53 Jahre, Professorin für Kulturwissenschaften an der Berliner Humboldt-Universität, veröffentlichte 1996 Der ewige Judenhaß (Burg-Verlag, Bonn). Neuaufgelegt wurde: Nicht ich – Logik, Lügen, Libido (Verlag Neue Kritik, Frankfurt/Main, 48 DM).