■ Einst Stadtguerilla, nun Häuslebauer: Hamburgs Hafenstraße zehn Jahre deeskaliert Von Silke Mertins
: Ein staatlich anerkannter Unruheherd

Vor zehn Jahren bot der damalige Bürgermeister Klaus von Dohnanyi dem Hafenstraßenwohnprojekt den Frieden an. 1995 gingen die besetzten Häuser in den Besitz der „Chaoten“ über – unwiederbringlich. Mit dem Ende des Dauerkonflikts am Elbufer zog postrevolutionärer Alltag ins politische Idyll ein: Verkehrsberuhigung, etwas Grün für die Kinder und ein ordentliches Badezimmer standen auf dem Wunschzettel der rund 100 BewohnerInnen. Von Normalität kann trotzdem keine Rede sein: Die Hafenstraßenszene umgibt sich nach wie vor mit der Aura eines Geheimzirkels.

So ein Eigenheim baut sich nicht von allein. Energisch schiebt der schwitzende Enddreißiger die vollbeladene Schubkarre über eine schmale Holzbohle. Blaumann und Strubbelhaare sind über und über mit Staub bedeckt. Ein letzter Schwung, und der Karreninhalt landet im Container. Man gönnt sich ein Päuschen.

Ein paar Meter weiter währt das Verschnaufen schon etwas länger. Auf einer hölzernen Behelfsveranda, die durch üppiges Buschwerk von der Straße abgetrennt ist, hat es sich ein anderer müder Baustellenkämpfer bereits beim Bierchen in der Sonne gemütlich gemacht. Er beobachtet die hauseigenen Katzen. Die machen sich gerade über den Nachbarshund her, der sie anzukläffen wagte, nun aber reumütig den Rückzug antritt.

Die Erinnerung an die Tage, als man selbst die kleinste Provokation von außen zum Anlaß nahm, die Krallen zu zeigen, sind schon leidlich verblaßt. Längst mußten die Strategien zur erfolgreichen Abwehr des Schweinesystems in Form feindlicher Polizeitruppen einer riesigen Wandtafel weichen. Darauf sind, nach Wochentagen geordnet, fein säuberlich auf gelben Zettelchen die Arbeitseinsätze auf der Baustelle Hafenstraße eingetragen.

Die Gespräche im staatlich anerkannten Unruheherd kreisen seit der endgültigen Befriedung vor zwei Jahren um nichts als Rohbauten, marode Elektroleitungen, einsturzgefährdete Decken, das geplante Blockheizkraftwerk und wem als nächstes ein ordentliches Badezimmer zustünde. Statt der weltweiten Unterdrückung der Menschheit durch das Kapital gilt die ungeteilte Aufmerksamkeit der ehemaligen BesetzerInnen heute ihrem ärgsten Feind: dem Schwamm.

Mit Leidenschaft und Akribie wird der Gemäuerkiller bekämpft. Wenn schon der „scheiß Staat“ nicht zur Strecke gebracht werden konnte, soll wenigstens „alternatives Wohnen am Elbufer“ gelingen. Schon der Millionär und linke Mäzen Jan Philipp Reemtsma, der die Hafenstraße kaufen und den BesetzerInnen überlassen wollte, lange bevor staatliche Einsicht einen solchen Schritt zuließ, beschrieb die als „Anarchos“ und „Chaoten“ Geschmähten als Leute, „die sehr sauber und sehr fleißig an ihrem Projekt arbeiten“. Das war 1987.

Der Schock, mit preußischen Sekundärtugenden in Verbindung gebracht zu werden, sitzt noch immer tief. „Keinen Bock“ hat das Hafenstraßen-Urgestein Anne Reiche, der Öffentlichkeit einen kleinen Einblick in den Alltag zwischen Zimmerpflanzen, Babywindeln und Betonmischmaschine zu gewähren. Die Hafenstraße hat schließlich ihren Ruf als Brutstätte aufrührerischer Umtriebe zu verlieren. Mit dem bewährten fremdenfeindlichen Argwohn hält man sich alle vom Leib, die nicht zum engeren Kreis der eigenen Subkultur gehören oder zumindest einen entsprechenden Leumund vorzuweisen haben.

Denn darf etwa nach außen dringen, daß der Kampf gegen das System sich heute im Einsatz für mehr Verkehrsberuhigung direkt vor der Haustür erschöpft? Daß Wok und Parabolantenne zur Grundausstattung eines anständigen postrevolutionären Haushalts gehören? Oder daß die für fünf Mark pro Quadratmeter in der Hafenstraße logierenden Lehrer, Rechtsanwälte und Sozialarbeiter längst ihren Frieden mit dem System gemacht haben? Nicht einmal vor einem dicken Spiegel- Auftrag zur besseren Computerarchivierung der Fotos scheut sich ein Hafenstraßenspezialist aus dem legendären „Chaos Computer Club“. Geld stinkt nicht mehr. Aber Eigentum verpflichtet auch. Natürlich wird ebenfalls viel für die sanktpaulianische Nachbarschaft getan. Zum Beispiel in der Stadtteil-Ini, die eine Baulücke in einen Park umwandeln will. Zufällig befindet sich das Grundstück unmittelbar neben den Hafenstraßenhäusern. Die inzwischen rund zwei Dutzend Kinder der HafenstraßenbewohnerInnen könnten, ist die Freifläche erst einmal nett hergerichtet, dort sehr hübsch Räuber und Gendarm üben. „Mit gewissen Eigenheimbesitzern“, lästern die jüngeren und politisch aktiven Antifas aus dem Autonomenzentrum „Rote Flora“ im Schanzenviertel, „ist einfach nichts mehr los.“

Manche sind gar gelangweilt ausgezogen, weil ihnen die Hafenstraße zu „unpolitisch“ und „spießig“ geworden ist. Andere sind gnädiger. „Wer so lange gekämpft hat“, sagt Rotfloristin Ulrike, 26, „der hat sich ruhige Zeiten doch verdient.“ Nicht nur das. Die Revolutionäre im Vorruhestand haben tatsächlich andere Sorgen. Neben der Befassung mit maroden Stützpfeilern und bröckelndem Putz gilt es Fragen von höchster gestalterischer Brisanz zu klären: Welche Motive, Sprüche und Farben sollen auf die in Bälde frischrenovierte größte Häuserwand gepinselt werden? „Kein' Hippiescheiß“, verlangen die einen. Andere wollen ein „Symbol der Erneuerung im positivsten Sinne“. Vielleicht „auf orangem Grund eine Sonnenblume“? Oder aber eine „Lohnsteuerkarte 1998“?

Trotz der forsch in Angriff genommenen Sanierung bieten manche Hausflure noch immer ein Bild der Verwahrlosung. Kabelwürste hängen blank aus der Decke, schmutzigbraun sind die Wände, es rieselt und quietscht allüberall. Doch nach zwei Stockwerken lichtet es sich plötzlich. Das Treppenhaus ist weg, dafür scheint die Sonne durch die Dachfenster. Dort, wo sonst nach einem Treppenabsatz eine Wand plaziert ist, steht keine. Verschiedene Ebenen machen die Orientierung schwer. Über eine Leiter ist der Gemeinschaftsraum – Wohnküche mit Tresen ordentlich drapierter Vorrats- und Gewürzgläser – zu erreichen.

Der Ausblick aus den in wilder Anordnung ins Dach eingebauten Fenstern verrät, warum trotz aller Mühe des Schweinestaats die BesetzerInnen die Hafenstraße um keinen Preis räumen wollten: Die Sicht auf die Elbe, den Hafen, auf Dock 11 von gegenüber und die vielen großen Pötte und kleinen Barkassen ist wunderbar.

Den Sozialdemokraten Günter Elste schmerzt es noch heute, daß diese Sahnelage den HausbesetzerInnen, die seinerzeit mit Gewalt dafür sorgten, daß er als Räumungsbefürworter ein Leben unter Polizeischutz führen mußte, in die Hände gefallen ist. Warum eine Gruppe, „die Randale gemacht hat, am Ende die Häuser bekommt“, sei „anderen sozial Benachteiligten einfach nicht klarzumachen“. Noch im jüngsten Wahlkampf habe er „als Sozi die Hucke voll gekriegt“ für eine Konfliktlösung am Hafenrand, die er selber nie wollte. Auch wenn nun Ruhe eingekehrt sei, so fürchtet er „negative Langzeitwirkungen“ für die „Glaubwürdigkeit von Politik“.

Achim Katz, Jugendrichter und Mitglied der Genossenschaft Hafenstraße, kann für Elstes Mangel an staatsmännischer Milde und die „schräge Sicht der Geschichte“ durchaus Verständnis aufbringen. „Das Feindbild sitzt tief“, sagt er. Einem rechten Sozialdemokraten „tut es weh, daß sich Leute wie die aus der Hafenstraße durchgesetzt haben“. Der Weg zum Waffenstillstand war lang und beschwerlich und kostete den damaligen Bürgermeister Klaus von Dohnanyi (SPD) den Kopf. Als erster hatte er vor zehn Jahren sein Amt in die Waagschale geworfen, um einen Vertrag mit der Hafenstraße abzuschließen.

Die gegen die bevorstehende Räumung errichteten Barrikaden sollten im Tausch gegen einen Mietvertrag verschwinden. Über die behende Gründlichkeit, mit der die gut organisierten Chaoten die Straße schließlich aufgeräumt und gefegt der Staatsmacht übergaben, staunte mancher. „Besenrein – so etwas bringen auch nur deutsche Revolutionäre fertig“, sinniert der linke Sozialdemokrat Walter Zuckerer, der das Spektakel damals beobachtete. „Die Unduldsamkeiten, Verhärtungen und Radikalisierungen hatten sicher auch etwas besonders Deutsches an sich“, räumt Stadtentwicklungssenator Thomas Mirow (SPD) im Rückblick ein. Seinem Verhandlungsgeschick war letztlich zu verdanken, daß die Hafenstraße vor zwei Jahren in eine Genossenschaft umgewandelt wurde. Hierzulande, so der in Paris geborene Diplomatensohn, gebe es „eine gewisse Neigung, einen Kompromiß als minderwertig zu betrachten“.

Dennoch zeigte das Nachgeben Wirkung auf beiden Seiten. Die Polizei läßt ihre Finger von der Hafenstraße. Nicht einmal die Dealer, die auf der Balduintreppe ihren Geschäften nachgehen, werden behelligt. Und die neobürgerlichen Exmilitanten beginnen sich langsam an dem blühenden Handel mit Rauschmitteln vor der eigenen Haustür zu stoßen. Über das Gemurre auf dem Hafenstraßenplenum soll natürlich eigentlich niemand etwas erfahren.

Kurzum: Je weniger das Sein mit dem Bewußtsein übereinstimmt, desto intensiver wird am Mythos Hafenstraße gestrickt. Man habe sich schon beim Verfassungsschutz beschweren wollen, spottet eine Exbewohnerin, daß die Hafenstraße bei denen nicht mehr erwähnt wird. „Wer immer Konflikt und Krawall will, für den sind geordnete Verhältnisse mit Aufbauleistung und Baumaßnahmen nicht mehr attraktiv“, prophezeite vor zehn Jahren der für die Hafenstraße engagierte SPD-Mann Michael Sachs.

Es kam sogar schlimmer. Heute zieht manch neuer Bewohner direkt vom Elternhaus in die Hafenstraße ein. Dennoch schottet sich das alternative Wohnprojekt mit der Aura eines Geheimbundes vom Rest der Welt ab. Auch nach dem Ende staatlicher Bedrohung ist die Hafenstraße kein offenes Haus geworden. Selbst ohne Barrikaden wirkt die Häuserzeile so verrammelt, vernagelt und abweisend wie seine BewohnerInnen. Warum es als geheime Kommandosache gilt, daß viele Hafensträßler noch immer Hochbetten lieben, Tropfkerzen auf den Tisch stellen, Handys benutzen, die Kinder wenig originelle Namen wie Paula, Marie oder Albert tragen und in der selbstverwalteten Krabbelstube betreut werden, bleibt eines der letzten Rätsel des autonomen Milieus.

Mit „grundsätzlicher Opposition“, die der „Staat dulden muß, sofern sie gewaltfrei bleibt“, wie Mirow findet, hat es wohl nichts zu tun, wenn noch immer als „Verräter“ gilt, wer aus dem Nähkästchen der neuen Eigenheime plaudert – als würde dort heute etwas Subversiveres geplant als der nächste Bauabschnitt. „Privatsache“ sei, was sich hinter den Türen abspielt. Das Private ist eben nicht mehr politisch. Politisch ist nur noch die Legende.