Eine „Kathedrale“als Tor zur Stadt

■ Rainer Schürmanns Gebäude mit Altenwohnungen an der Wilhelm-Kaisen-Brücke nimmt Anleihen am Sakralbau / Das deutliche Zeichen für alle PassantInnen: Hier beginnt Stadtraum

Viele BremerInnen waren sauer. Und es hätte nicht viel gefehlt für die Gründung einer Bürgerinitiative: Die Schrebergärtner sollten weg! Nein, nicht die aus Fleisch und Blut. Gegen die ist in der Hansestadt genauso wenig durchzusetzen wie gegen die Freimarktsschausteller. Es waren „Die Schrebergärtner“: Das Doppelwandbild an zwei Brandwänden an der Friedrich-Ebert-Straße, Ecke St.-Pauli-Deich gleich in der Nähe der neustädter Seite der Wilhelm-Kaisen-Brücke. „Zwischen Tür und Angel“hatten Jub Mönster und Jürgen Schmiedekampf 1984 ihr Pärchen genannt. Doch weil keine Bürgerinitiative gegründet wurde, sind die Schrebergärtner – alias „Schnack über den Gartenzaun“– jetzt zwischen Wand und Wand verschwunden: Die Altenwohnanlage der St.-Pauli-Gemeinde wurde nach Plänen des Bremer Architektenbüros Schomers und Schürmann an gleicher Stelle gebaut, und nicht nur Schrebergärtner finden, es ist kein schlechter Ersatz.

Rainer Schürmanns Entwurf hatte sich in einem Wettbewerb mit über 100 Einsendungen durchgesetzt. Zum Wettbewerb war die Gemeinde verpflichtet, weil sie ein städtisches Grundstück hinzugekauft hatte. Die Jury fand, daß Schürmann die Anforderungen am besten erfüllt – nämlich die Unräumlichkeit des Brückenkopfes zu mildern und den gewaltigen Straßenraum einzuengen. Das zweite Plus: Der Entwurf verweist auf die Geschichte des Grundstücks, ohne zu romantisieren. Denn bis zu ihrer Zerstörung hatte die St.-Pauli-Kirche dort gestanden.

Der im Oktober dieses Jahres fertiggestellte Neubau setzt Akzente. Mit seinen beiden Seitenflügeln und dem sechsgeschossigen, vorspringenden Kubus in der Mitte ist er ein markantes Kopfgebäude. Die Flügel an den Seiten nehmen die Traufhöhe der benachbarten Wohnbebauung auf, der von vier Säulen gestützte Kubus läßt es zugleich doch wie ein Solitär wirken. Wer dabei an eine Kathedrale denkt, liegt nicht falsch. Die Flügel sind Stellvertreter für die Seitenschiffe und der Kubus entspricht einem Turm mit abgeschnittener Spitze.

30 Altenwohnungen unterhält die St.-Pauli-Gemeinde in dem Gebäude. Dazu kommt eine Service-Station, deren MitarbeiterInnen eine Versorgung rund um die Uhr gewährleisten. Ist es nicht zu laut an der viel befahrenen Friedrich-Ebert-Straße? Ein Gemeindesprecher schüttelt den Kopf: „Schon gleich nach der Fertigstellung waren über 20 Appartements vermietet.“Die Citynähe mache das Gebäude einfach attraktiv. „Außerdem hat jedes Haus ja auch eine Rückseite.“

Dort findet sich das Kathedralenmotiv noch deutlicher. Nach dem Gang durch das großzügige Foyer erreicht man eine Halle, für die das Wort Aufenthaltsraum pure Tiefstapelei ist. Über mehrere Etagen erstreckt sich der Lichthof, der den hinteren Abschluß der Wohnungen bildet. Unweigerlich wie in einem Sakralbau schweift der Blick nach oben. Damit „Altenwohnungen“und „Kirche“jedoch nicht zu falschen Assoziationen führen, ist das ganze Gebäude hell und freundlich gestaltet. Und: In den beiden Ladenlokalen sind – ganz für diesseitige Bedürfnisse – ein Restaurant und ein Beauty-Shop untergebracht.

Auch in der näheren Umgebung tritt Rainer Schürmanns Neubau groß auf. Trotz des schwierigen Gegenübers – ein um rund 30 Meter vom Straßenrand versetztes Appartementhaus der Gattung „brutale Moderne“– ist es dem Architekten gelungen, eine fast torähnliche Situation zu schaffen. Was auf dem unweiten Teerhof mit dem Katasteramt und dem Versicherungsgebäude auf der gegenüberliegenden Seite schon in den 50er und 60er Jahren gelungen war, wird jetzt – so gut es ging – auch an diesem Brückenkopf wiederholt.

Egal, ob man sich dem Neubau aus Richtung Leibnizplatz nähert oder von der Westerstraße kommt, die durch das Gebäude einen optischen Schlußpunkt erhält: Es wird deutlich signalisiert, daß hier Stadt beginnt. Und weil Stadtraum knapp ist, muß er – an prominenten Stellen – verdichtet bebaut werden. Genau das ist Schürmann mit der „Kathedrale“gelungen. ck