Kraftschleudern

■ Schockierend, witzig, aggressiv: Die Compagnie „Les Ballets C. de la B.“ist die Tanzherbst-Entdeckung

Die Zeit vergeht. Je älter, desto schneller. Im Stück „(They feed we) Eat, eat eat“der belgischen Compagnie „Les Ballets C. de la B.“verstreichen zwischen Geburt und Tod einer Frau gerade mal 15 Sekunden. Das ist Rekord! Atemberaubend. Schockierend. Witzig. Aggressiv. Alles zusammen. Applaus, Applaus, Applaus ... Und dazu vielleicht ein Schrei aus dem tiefen, dunklen Bühnenkeller? „Rruuuuaaaaagggghh“... Na bitte!

Klar ist die Welt schlecht, wieder mal. Dafür braucht es keine Frankfurter Allgemeine Zeitung, die ebendas bei der deutschen Erstaufführung des 90 Minuten langen Stückes im Sommer in Frankfurt feststellte. Doch die größte Schweinerei ist, daß die Frist zum Gewinnen so kurz ist. „Les Ballets C. de la B.“alias „Les Ballets Contemporaines de la Belgique", Hausensemble des Genter Künstlerzentrums „Vooruit“, haben sie genutzt und das jetzt auch beim Tanzherbst im Schauspielhaus bewiesen – eindrucksvoll und gruselig schön.

Hans van den Broeck, Regisseur und Choreograph und selbst in diesem Alter über 30 hat für sich selbst, ein Septett von TänzerInnen und ein musikalisches Multitalent – sie auch alle „um die 30“– ein virtuoses Drama der Vergänglichkeit inszeniert. Eineinhalb Stunden lang schleudern van den Broeck und Co auf die Bühne, was an Kraft, Energie und Intelligenz in ihnen steckt.

Anfangs ist die Bühne öd und leer. Nur ein Tisch und ein gemaltes orange-schwarzes Drohwetter kündigt an, was geschehen wird. Doch schon kommt Leben in die Bude: Menschen gehen, radeln, schreiten, schlurfen vorbei. Sie reden, tragen einen Sarg, jagen einander und zaubern mit wenigen Gesten ein so groteskes wie treffendes Kaleidoskop des Alltagslebens ins ausverkaufte Schauspielhaus, bis trügerische Ruhe einkehrt.

Eine Bar. Der Wirt (der Musiker Johan Derycke) ist schon da. Langsam gesellen sich die acht anderen hinzu: Die Frau, die unentwegt redet, der Mann mit dem Walkman, der andere im Anzug, der auf seine Kehle schlägt und ihr ulkig-beklemmende Schreie entlockt, oder die lachende Portugiesin.

Zunächst Alltagsbilderbogen wie die Ouvertüre, gerät die Bühnenwelt wie die echte immer mehr aus den Fugen. Aus dem Keller der Schrei, zwei Frauen auf der Flucht, dazu Bahnhofsgeräusche, in die sich Explosionen mischen, dann –wieder trügerisch – Klänge des Ackordeons und das gar nicht so harmlose Kinderspiel „Reise nach Jerusalem“: Kongenial spielen van den Broeck und das Ensemble mit vertrauten Bildern, um sie sogleich zuzuspitzen und zu brechen. In einem „multimedialen“Kraftakt aus trivialen Bildern, tänzerischen Sequenzen, Sprache und Musik treiben sie den ZuschauerInnen das Lachen ins Gesicht und gleich darauf den Schock in die Magengrube, bis sie als Greise geschminkt und wie Untote gekrümmt schließlich zu einer letzten Fütterung am gedeckten Tisch Platz nehmen. Die Zeit vergeht, je älter, desto ... langsamer. Applaus, Applaus, Applaus und von hier aus ein Abwerbegebot für diese Truppe in Richtung Gent.

Christoph Köster