■ Nachschlag
: Thomas Rosenlöcher im Buchladen „Lesen und lesen lassen“

Der Bart ist schon etwas angegraut, aber immer noch ungebändigt. Das krause Haupthaar trägt er hinten notdürftig gebündelt, und auch die Schnauze ist bleibend unfrisiert. Daß die Mutter da in früher Kindheit dagegenzuklopfen pflegte und auf sächsisch ermahnte: „Sprich anständig, Domas!“, hat nichts genutzt und nichts geschadet. Wenn Thomas Rosenlöcher liest, dann ist der sächsische Singsang unüberhörbar, und er gehört zu diesen Texten integral dazu.

„Sächsisch als Verlierersprache“ lautet auch der Titel eines Essays im neuen Band „Ostgezeter“ (Suhrkamp Verlag), der den Abend programmatisch einleitete. Wie am eigenen Dialekt entdeckt Rosenlöcher an den Dingen gerne das Kleine, Liebenswerte, Unscheinbare und schreibt über das, was gerade verschwindet. Er beschäftigt sich lieber mit den Verlierern als mit den Siegern der Geschichte und kann deshalb getrost im heimischen Sachsen verharren. Seine Erzählungen aus der Wendezeit, besonders das Tagebuch einer Harzreise („Die Wiederentdeckung des Gehens beim Wandern“), beschreiben die Melancholie des Untergangs und die zögerliche Ankunft der neuen Welt in der Provinz.

Diese Texte wird man in 50 Jahren einmal lesen, wenn man wissen will, wie sich die Wende im Osten anfühlte. Schon heute haben sie Patina angesetzt und sind ein bißchen historisch geworden. Rosenlöcher schafft es, jede Peinlichkeit und jeden unsympathischen Säufer irgendwie liebenswert darzustellen. Selbst wenn er über die Banane als leuchtende Utopie der alten und als profane Frucht der neuen Zeit schreibt, ist das erträglich und erstaunlich unabgedroschen. Eine gelegentliche Prise Zynismus als Gegengift zum Humorigen wünscht man sich allerdings vergeblich. Statt dessen herrschen milde Boshaftigkeit und versöhnliches Dauerschmunzeln.

Die stärksten Augenblicke hat Thomas Rosenlöcher in seiner Lyrik. Nicht nur, weil einzelne Verse das ganze Glück der Welt umfassen können und sein leiser Spott sich hier prägnanter entfaltet – etwa im Gedicht „Paradies der Betrachtung“, das dem Abend im winzigen, küchengroßen Buchladen „Lesen und lesen lassen“ in Friedrichshain seinen Titel gab. Sondern schon deshalb, weil Rosenlöchers Selbstcharakteristik so geht: „Kürzlich fragte mich, als ich zur Elbfähre hinunterging, einer der dortigen, an das Kneipengeländer gelehnten Trinker: ,Nu, Rosenlöcher. Dichdest de wieder?‘ ,Ach was. Spazieren gehe ich.‘ ,Klar dusde dichdn: De Vöchel singen im Gezweich.‘ Indem ich sah, daß ich fortkam, mußte ich zugeben, daß mein Gesamtwerk noch nie so zutreffend charakterisiert worden war.“ Jörg Magenau