In den Fußstapfen des Dr. Kimble

■ Herr Mustermann auf der Flucht: „Gejagt – Das zweite Gesicht“ ist auf Verfolgungsjagden aus (Pilotfilm 12.55 Uhr, 1.Teil 16.35 Uhr, Pro 7)

Wieder so einer, der von einer Minute zur anderen aus seinem mustergültig arrangierten Leben geschubst wird. Eben hat Literaturdozent Gus McClain eine Gastdozentur angetreten, alles sieht rosig aus und erstmals fällt das Wort Familienplanung zwischen ihm und seiner Ehefrau Sarah.

Doch schon häufen sich die unerklärlichen Ereignisse. Die sorgsam gepackte Aktentasche ist leer, ein Freund berichtet von einem trinkseligen Abend mit abschließender Schlägerei, eine Studentin von einem Liebesabenteuer, allein der verwirrte Akademiker kann sich an nichts erinnern. Man befürchtet eine Erkrankung, doch der Besuch beim Psychologen bleibt ohne Befund. Des Rätsels Lösung steht kurz bevor und wird mit einer traumatischen Erfahrung verbunden sein: Waise Gus hat einen bis dato unbekannten Zwillingsbruder namens Booth, der ihm aufs Haar gleicht.

Dieser Soziopath, von dem niemand weiß, hat bereits mehrere Morde auf dem Gewissen, wird vom FBI gejagt und tötet auch Sarah. Alle Hinweise auf seine Existenz sind vertuscht, sämtliche Indizien lassen Gus als den Täter erscheinen. Gus wird verhaftet und soll ins Gefängnis überführt werden, wird aber von Booth befreit, was ihn um so verdächtiger erscheinen läßt. Auch hat Booth ihn wissen lassen, daß er an einer tödlichen Krankheit leidet – für Gus beginnt ein Wettlauf mit dem FBI und gegen die Zeit, wenn er seine Unschuld beweisen will...

Auffällig viele US-Serien haben sich in jüngster Zeit mit einem ähnlichen Sujet befaßt. Immer sind es normale Bürger, die durch unvorhergesehene Umstände gleichsam zu Ausgestoßenen werden, die gewohnte Umgebung urplötzlich als feindselig und jedes Visavis mit Mißtrauen betrachten müssen. Ein solider Lebenswandel ist keine Garantie, gegen derartige Einbrüche gefeit zu sein. Die intelligenteste Variante hat „Nowhere Man“ (RTL) zu bieten, während „Gejagt – Das zweite Gesicht“ überdeutlich vom Klassiker „Auf der Flucht“ inspiriert wurde, einige Konstruktionsschwächen aufweist und eher auf sportive Verfolgungsjagden aus ist als auf zeitkritische Reflexion. Mußte Dr. Kimble jenen berühmten Einarmigen finden, den außer ihm niemand gesehen hatte, ist es hier der Zwillingsbruder, dessen täuschende Ähnlichkeit mit dem Helden die Angelegenheit doppelt spannend macht – auch der Zuschauer darf spekulieren, wen er gerade vor sich hat. Wie Kimble hat Gus McClain einen verbissenen Verfolger; die Nemesis kommt in Gestalt der resoluten FBI-Agentin Carter daher.

In den weiteren Episoden wird McClain ruhelos durchs Land trampen, als Vogelfreier, jeglichen Rückhalts beraubt. Eines aber unterscheidet diese Serie von den Road-Serials der 60er Jahre – das tiefe Mißtrauen gegenüber staatlichen Organisationen. Denn auch hier gibt es dubiose Geheimbünde, die sogar dem allgegenwärtigen FBI überlegen scheinen – die Agenten Mulder und Scully lassen grüßen. Harald Keller