■ Ökolumne
: Alles für die Raser Von Gila Altmann

Es ist Wahlkampfzeit, die Kassen sind leer, die BürgerInnen sind sauer. Höchste Zeit für ein wenig Ablenkung. Höchste Zeit, denn drei Dinge will der Mann: Tempo, Mut und freie Fahrt. Höchste Zeit für Wissmann, den Speedman.

Wissmann hat seine Autofahrer lieb, das muß endlich mal gezeigt werden. Da bietet sich die Neufassung des Straßenverkehrsgesetzes bestens an. Der jüngste Coup: Weg mit den Tempo-30-Zonen! Vor Schulen darf nachts in Zukunft wieder gerast werden, da sind keine Kinder auf der Straße. Die fallen dafür aus dem Bett.

Was scheren Wissmann die in jahrelangem Kleinkrieg von Initiativen erkämpften Tempo-30-Zonen? Daß bei Tempo 30 in geschlossenen Ortschaften rund 1.000 Tote und 20.000 Schwerverletzte pro Jahr weniger zu beklagen wären? Daß der innerstädtische Lärmpegel deutlich gesenkt wird, daß Benzinverbrauch und Emissionen abnehmen?

Fahrverbote, so hat es die Koalitionsmehrheit gestern im Bundestag beschlossen, sollen in Zukunft toleranter gehandhabt werden. Ab sofort heißt die neue Berechnungsformel für den geschwindigkeits- und kostenbewußten Raser: Vorgeschriebene Geschwindigkeit plus 31 Stundenkilometer innerorts, 41 Stundenkilometer außerorts plus zehn Prozent Meßtoleranz kostet maximal 3.000 Mark. Dies als „Verfahrensvereinfachung“ zu verkaufen, ist schon reichlich dreist.

Unfallursache Nummer Eins ist und bleibt nicht angepaßte Geschwindigkeit. Gerade deshalb lebt es sich in unseren Städten gefährlich. Nur wer schnell genug ist, überlebt. Das Fußvolk bleibt auf der Strecke. Und das alles für eine Handvoll Raser, die das Auto mit einer Kampfmaschine verwechseln.

Zwischen Tempo 30 und 50 liegen Welten: ein Bremsweg von 13 Metern, der über Tod oder Leben entscheiden kann. Besonders betroffen sind die Kinder. In Deutschland stirbt praktisch jeden Tag ein Kind den Verkehrsunfall-Tod. 75 Prozent aller Kinderunfälle passieren innerhalb geschlossener Ortschaften.

Und noch schlimmer: Man darf sich weiterhin vor Fahrtantritt in Stimmung bringen. Keiner muß um sein Bierchen bangen, da ist die Theken-Fraktion vor. Die Koalition der Vernunft, die sich für eine echte 0,5-Promille-Grenze abzeichnete, ist zerbröselt. Übrig geblieben ist der erhobene Zeigefinger. Zwischen 0,5 und 0,79 Promille kostet es beim ersten Mal magere 2 Punkte in Flens(!)burg und schlappe 200 Mark. Diese neue Regelung ist nichts weiter als ein weichgespülter Kompromiß zur Rettung der Regierungsmehrheit.

Die Gesellschaft ist erheblich weiter als diese Regierung: Die Hälfte der Bevölkerung befürwortet ein absolutes Alkoholverbot am Steuer. Frauen sind in der Praxis schon jetzt eindeutig klüger: 90 Prozent der erwischten Säufer sind Männer.

Bei anderen Drogen wird um so härter zugeschlagen, obwohl sie die absolute Minderheit stellen. Bei 97 Prozent aller Unfälle im Rausch ist Alkohol – oft in Verbindung mit Medikamenten – im Spiel. Jeder zweite Verkehrstote geht auf das Konto Alkohol. Nach der neuen Regelung soll aber schon der Besitz von einem Stück Shit grundsätzlich die „charakterliche Nichteignung“ zum Führen von Kraftfahrzeugen belegen. Führerschein ade. Bei Gleichbehandlung mit der Droge Alkohol hieße das: Ein Kasten Bier zu Haus, und der Führerschein ist weg!

Die Möglichkeiten, sich freizukaufen, sind größer geworden. Für die, denen es trotzdem gelingt, 14 Punkte zu erreichen – das ist das eine Prozent der Autofahrer, für die Saufen oder Rasen zum Normalzustand geworden ist –, gibt es noch einen Rabatt. Flensburger-Punkte-Nachlaß bei Nachschulung. Wer es dennoch bis zum Führerscheinentzug schafft, kann sich aussuchen, wann er aussetzen will.

Mit dieser Novelle des Straßenverkehrsgesetzes werden die falschen Signale gesetzt. Notwendig wäre eine grundlegende Umkehr der Verkehrsleitbilder, denn nur dadurch kann ein verändertes individuelles Verkehrsverhalten bewirkt werden. Wir müssen weg vom „Immer schneller, immer weiter“ hin zu einer menschenfreundlichen und umweltschonenden Mobilität, einer Kultur der Nähe, die eine nicht motorisierte Erreichbarkeit möglich macht. Von einem solchen „Tempowechsel“ hat sich Beschleunigungsminister Wissmann weiter denn je entfernt.