Nicht nur Essen, sondern Ritual

■ Vermummte Menschen streifen wieder durch Marsch und Geest: Winter, Frost und Pinkel gehören zusammen / Ab 19. November beginnt in Bremen die Braunkohlsaison

etzt schlurfen die Massen wieder vermummt durch Marsch und Geest, sich gegen Wind und Wetter stemmend. Erwartungsfroh knurrt der Magen. Die von feuchtem Nebel durchzogenen Glieder sehnen sich nach Wärme. Wie ein Wallfahrtzug pilgern Nachbarn, Kegelclubs und Betriebsgruppen durch Deutschlands Norden. Nein, nicht einfach zum Essen, sondern zum Ritual des Kohl und Pinkel Schmausens.

Dabei ist die jahrhundertealte Kulturplanze nicht spektakulär. Kohl war ein typisches arme-Leute-Essen. Kartoffeln und Kohl paßten in den kleinsten Beigarten. Die Kohlpflanze ist anspruchslos und robust. Wenn der Frost alles Gemüse im Garten erfrieren läßt, dann läuft Grünkohl oder Braunkohl, wie er in Bremen heißt, erst zur richtigen Hochform auf. Kohl enthält viele Bitterstoffe. Der Frost zerstört die Bitterstoffe, er erhöht den Zucker und Stärkeanteil der Pflanze, sie wird bekömmlicher.

Ähnlich dem gemeinen Hering, der als Matjes eine delikate Wiedergeburt als Delikatesse erlebt hat, ist aus dem arme-Leute-Essen Kohl ein regionales Traditionsgericht geworden. Es gibt ungefähr soviel Rezepte wie es Küchen gibt. Eines ist aber allen Varianten gemein, alles muß reichlich sein: reichlich großer Kochtopf, reichlich Kohl, reichlich Fleisch, reichlich Bier und Klarer, reichlich EsserInnen. Bernd Schwarze, Obermeister der Bremer Fleischerinnung, lokalisiert drei große Kohl und Pinkel-Regionen: Bremen, Oldenburg und Ostfriesland und Hamburg bis Schleswig-Holstein.

Der original Bremer Pinkel besteht aus Speck, Hafergrütze und Zwiebeln, gewürzt mit Salz, Piement und Pfeffer. „Aber ich glaube, jeder Fleischer macht aus seiner Mischung der Gewürze ein Geheimnis“, weiß Scharze. Es nutzt nichts zu wissen, was genau im Pinkel ist, auf die Mischung kommt es an. Dazu wird in Bremen Kassler, Kochwürste und Schweinebauch gereicht. Die Hamburger verzichten ganz auf Pinkel, sie legen Schweinebacke zum Kohl. In Ostfriesland besteht Pinkel aus Schweinebauch, Grütze, Zwiebeln und Gewürzen. Den besten Pinkel zu finden, löst in manchen Regionen eine regelrechte „Tour de Schlachter“aus.

Auch bei der Kartoffelbeilage scheiden sich die Geister. Nachbarin Oma Penning schwört auf Salzkartoffeln, auf dem Bremer Markt werden Bratkartoffeln gereicht. Exzentrisch, aber äußerst delikat ist die Hamburger Version: kleine, geröstete Kartoffeln. Fundamentalisten essen die mit Schale.

Die eigentliche Grünkohlzubereitung ist von Familie zu Familie verschieden. So macht es Nachbarin Oma Penning: Den nicht zu fein geschnittenen Kohl, Pinkel, Kassler oder Nacken, Bauch, Wasser, eine Stange Porree, eine Gemüsezwiebel (ganz), Senf (nicht kleckern – klotzen), Salz, Pfeffer in einen Topf geben. Immer daran denken, es handelt sich um ein deftiges Gericht, nicht um einen sensiblen Gaumenschmeichler.

Das ganze köchelt, je nach Menge mindestens zwei Stunden, wenn nicht länger vor sich hin. Ob dem Kohl Grütze oder Haferflocken beigefügt werden, der Sud gar angedickt wird, ist eine Glaubensfrage. Wer es mag. Übrigens schmeckt der Kohl am besten, wenn er einen Tag vorher gekocht und dann aufgewärmt wird.

Da Kohl bläht, ist es überaus menschenfreundlich, auch nach dem Essen einen Spaziergang zu machen, uch wenn der wegen der verdauungsfördernden Klaren schwer werden sollte. schuh