Von Walzern und Sternen

■ Mutig, akrobatisch, unzulänglich: Die BremerInnen beim Tanzherbst

Die Tanzschule gibt ein Fest. Jemand hat den Saal mit Licht geschmückt und alte Platten mitgebracht. Die Platten mit den Chansons im Walzertakt und Milongaschwung. Bevor sich die TänzerInnen – einzweidreieinszweidrei wiieee gen wiieee gen – zu drehen beginnen, tritt Gitta Barthel, Choreographin dieses Abends namens „Bal Musette“und Leiterin der Compagnie „Les Passageurs“, ins Spotlicht und zitiert Tim Fischer: „Fragen Sie mich, was Liebe ist? Ein Stern in einem Haufen Mist.“Seine Worte aus ihrem Mund: Und deutlich wird, was für ein kluger Mensch der junge Chansonnier doch ist.

Verwandtschaften

Das vergangene zweite Tanzherbst-Wochenende war für SolistInnen und Gruppen aus Bremen reserviert. Am Sonnabend war die Bremer Premiere von Gitta Barthels „Bal Musette“annonciert, am Freitag ein Marathon mit Kurzproduktionen namens „Dance Walk“auf dem Theatergelände und einer anschließenden Fete in der Dienstvilla des Viertelbürgermeisters Robert Bücking. Hier wie dort ein freundliches, geradezu verwandtschaftliches Publikum. Von einzelnen Stimmen mal abgesehen.

Feindschaften

In Bückings Villa an der Theke. „Ich bin mit der taz verfeindet“, sagt einer, der aus dem Mund nach Kaffee riecht. „Ein ganz enger Freund von mir hat dort gearbeitet und sich mit denen zerstritten.“Aha, wann? „Vor 18 Jahren.“Das ist lange her, dann bist Du ein treuer Feind!? „Ja.“

Im Flur. „Dir hat es nicht gefallen.“Nein, es war so unfertig. „Also ich hab' da viel drin gesehen.“Was? „Womit der David arbeitet. Eine Raumauffassung nach der Cunningham-Methode.“Aha! Spannend.

Im Rauchsalon. „Gestern war ja wieder ein Text drin.“„Genauso unmöglich.“„Ja, unverschämt, aber wenigstens verständlich.“„Trotzdem unmöglich.“

Wieder im Flur. „Hallo, bist Du nicht...“Ja. „Darf ich Dich wegen einer Sache ansprechen?“Sprich. „Macht Ihr noch was zum Karneval?“Ja, jetzt. „Die Marketing Gesellschaft hat unseren Antrag abgelehnt. Ich habe einfach angst, daß die ganzen Projekte den Bach runter gehen.“Das wäre schlecht.

Auf der Schwelle. „Du kennst ,La Mère' von Debussy?“Schon gehört. „Das ist Impressionismus in Reinkultur. Doch der Günter Neuhold hat dafür nicht das geringste Gespür.“So so. „Und übrigens, das Stück war richtig scheiße, pornographisch und widerlich.“Welches Stück? „Das ...“

Egal. Hinaus in die Nacht. Am Himmel Sterne.

Zum Dance Walk

„Es ist unmöglich, alles zu sehen“, sagt Hans Diers, Co-Organisator des Tanzherbstes. Psychologisch geschickt, für JournalistInnen gemein (oder Rettung?), sind manche Choreographien für alle zu sehen und werden andere parallel gezeigt. Ein Conferencier scheidet die ZuschauerInnen in Gruppen und drückt ihnen Bonbons, Oropax-Watte und Teebeutel in die Hand. Manche murren. Nur nicht die Bonbon-Fraktion, denn die hat zu lachen.

Matthias Früh improvisiert. Laut Programmzettel inspiriert von Friedrich Christian Delius Erzählung „Der Tag, an dem ich Weltmeister wurde“spricht er die Fußballreportage des WM-Endspiel-„Wunders von Bern“anno 1954 nach. Schön dehnt er die Vokale, betont den Radio-Jargon der 50er Jahre, der Piefigkeit und Militarismen vereint. Dazu tanzt er – immer absurd mal das Gegenteil, mal die Worte durch Gesten unterstreichend. Diese Miniatur ein Glücksgriff, der Saal johlt begeistert und ist es zu Recht.

Weiter gewalkt zu Leonard Cruz. Der workaholische Tänzer aus dem Ensemble von Susanne Linke und Urs Dietrich hat wieder ein Solo choreographiert: „Tender Buttons“. Zunächst wälzt und reckt er sich an der Rampenkante, dann tanzt er den Berggorilla und den Schlangenmenschen, bis er im zweiten Teil mit dem Geiger Hozumi Murata in einen Wettstreit der Künste tritt. Akrobatischer als je zuvor und durchtrainiert bis in den kleinen Zeh, stellt er sein ganzes Können zur Schau. Wieder johlt der Saal.

Auf nach draußen zu einer anderen Form von Akrobatik. Ein künstlerisches Kollektiv zeigt Ausschnitte seines Sommerspektakels „...wenn oben auf dem Dach“. Hoch oben hängen drei Tänzerinnen im Seil und trommeln auf die Hauswand; noch höher seilt sich eine andere ab, gefährlich baumelnd; weiter rechts schlagen zwei Tänzer wild geworden und schreiend auf ein Faß mit Wasser ein – das Ganze firmierte im Sommer unter der Rubrik Soziokultur, hier im Scheinwerferlicht ist es zur effektvoll dramatisierten Performance-Kunst erhoben. 400 Mark, so heißt es, betrug die Gage dafür. Die Gruppe will davon mal richtig essen gehen.

Liebesschwüre

Zurück zum „Bal Musette“, dem Stück der vor zwei Jahren aus dem Linke/Dietrich-Ensemble ausgestiegenen Choreographin und Pädagogin Gitta Barthel. Zusammen mit fünf weiteren TänzerInnen aus der freien Szene hat sie einen getanzten Chansonabend mit Liedern von Brel, der Gréco, Rühmann, Georgette Dee und anderen inszeniert. Als Moderatorin führt sie durch den Abend und hält ihn mit ihrem Parlando und kleinen tänzerischen Sequenzen zusammen.

Es ist mutig von den Akteuren, sich beim Tanzherbst dem direkten Vergleich mit hochkarätigen Gastensembles zu stellen. Denn technische Unzulänglichkeiten sind bei den aus freier Improvisation und federleichten Anleihen beim Standardtanz zusammengesetzten Choreographie-Häppchen des Quintetts nicht zu übersehen. Doch dank geschickt genutzter Hilfsmittel – schöne Lichteinfälle von Horst Mühlberger und vor allem die Musik – entsteht ein lyrisch-poetisches Gesamtwerk, das in einigen Bildern, wie dem einer koketten Concièrge oder einer offenbar von Cora Frost inspirierten Divenfigur, charmant-witzige Höhepunkte setzt – Sterne allenthalben.

Das Verdienst des Tanzherbstes ist es, die Gastspiellücke in Bremen wenigstens für zehn Tage zu schließen und Ansporn für die freie Szene zu sein. Er gab Impulse, Gruppen gründeten sich, die Szene wurde reger. Und dennoch: Beim dritten „großen“Bremer Tanzherbst zeigte sich auch, daß ein zehntägiges Festival im Jahr bei weitem nicht reicht, Tanz in Bremen zu fördern. Christoph Köster