■ Die Grünen kämpfen nicht mehr mit sich, sondern mit dem Gegner
: Angriff als neue Strategie

Für einen unendlich langen Moment hat die Bündnisgrünen die Angst des Torwarts vor dem Elfmeter beschlichen. Dieses erdrückende Gefühl von „jetzt oder nie“, das sie vier-, beziehungsweise acht Jahre altern läßt. Es ist die Angst, vom Platz zu müssen, ohne je dazu gekommen zu sein, den Ball gehalten zu haben. Und bei manchen dürfte sich die Furcht dazugesellen, bei einem nächsten Mal nicht wieder aufgestellt zu werden.

Es ist die Angst, die vor dem Spiel um die richtige Taktik hadern läßt, eine Furcht, trotz aller Vorbereitungen noch immer nicht zu wissen, in welches Eck der Gegner schießen wird. Überhaupt, es ist eine schweißtreibende Fixierung auf einen Gegner, der seit Jahren konstant in jenes Eck schießt, in welches man nicht hechtet.

Für einen unendlich langen Moment schien das Spiel denn auch schon wieder gelaufen zu sein – wenigstens im Kopf. Bis sich die Bündnisgrünen, animiert durch ihren Fraktionsvorsitzenden Joschka Fischer, dann darauf besannen, daß sie auf der falschen Position spielen, daß ihre Qualitäten eigentlich im Angriff liegen.

Fraktionschef Joschka Fischer hat mit seiner Rede zwei Gräben überbrückt. Den zwischen seiner Person und seiner Partei. Und den, der – zwar zum Gutteil schon zugeschüttet, aber trotzdem sichtbar – noch immer zwischen den Grünen und der Gesamtgesellschaft gezogen ist. Gemeinwohl, so lautet jetzt die Orientierung für den anstehenden Bundestagswahlkampf und für eine künftige Regierungstätigkeit. Es gilt nicht mehr, die eigenen Anliegen gegen Kapital und Staat durchzusetzen, künftig werden auch nicht mehr die Auen gegen die Autofahrer in Stellung gebracht. Es gilt vielmehr, für möglichst viele in der Gesellschaft den gangbaren richtigen Weg aus der Krise zu finden.

Das klingt nach einem Abschied von überholten Dichotomien, es könnte aber auch das Verkleistern von Widersprüchen bedeuten, die besser ausgetragen würden. In der neuen Orientierung wird deutlich, daß das grüne Regierungsprojekt kleiner ausfallen wird, als es sich die Partei bislang erhofft hat. Und es heißt auch, daß dessen gesellschaftliche Durchsetzung womöglich mehr Kraft abverlangen wird, als die Grünen alleine aufbringen können.

Der Streit um die vermeintliche Auflösung der Nato war von daher weniger ein Disput über Grundsätze – das war er zwar auch –, es war vielmehr einer um das richtige Vorgehen. Keine Konflikte eingehen, die man nicht durchsteht, so heißt die neue Parole der Bündnisgrünen an der Macht. Und nach dieser Devise wurden bereits die Koalitionsverhandlungen in Hamburg geführt. Die Basis hat das wider die tradierte Erwartung mancher Beobachter goutiert.

Keine Konflikte eingehen, die keine Lösung versprechen: diese Leitlinie befolgte Joschka Fischer, daran hielt sich auf diesem Parteitag bereits vor ihm auch Jürgen Trittin. Der Programmstreit wurde auf ein praktikables Maß reduziert, die Lagerkonflikte wurden weitgehend eingedampft. Die von manchen erhoffte Neuauflage der Fundi-Realo-Kämpfe hat nicht stattgefunden. Sie gehört in ihrer existentiellen Form inzwischen wohl auch der Vergangenheit an. Mancher mag nun lamentieren, die Bündnisgrünen seien damit normal geworden. Was soll's.

Der lange Abschied von dieser alten, die Partei prägenden Dichotomie wurde mit dem rauschenden Beifall für die Rede des Fraktionsvorsitzenden eingeläutet. Fischer, der auf früheren Parteitagen immer wieder gerne damit kokettierte, nur ein Gast und ohne Amt zu sein, spielt nun anerkanntermaßen eine zentrale Rolle. Er hat den Wahlkampf in der ihm eigenen Dramatik als grünen und gesellschaftlichen Daseinskampf eingeläutet. Das ist überhöhend und mobilisierend zugleich.

Der Beifall zu seiner Rede und der Ablauf des Parteitages läßt ahnen, daß die Bündnisgrünen ihre Position gefunden haben. Früher sagten sie, und das noch nicht einmal zu Unrecht: Wir haben keine Chancen, aber wir nutzen sie. Jetzt haben sie tatsächlich eine Chance, sie müssen sie nur nutzen. Man kann es auch mit den Worten von Boris Becker erklären: Das Spiel findet zur Hälfte im Kopf statt. Dieter Rulff