Freiheit für Wei nur im Exil

Chinas bekanntester Dissident Wei Jingsheng kommt frei, doch seine Zukunft ist unklarer denn je. Ihm droht nach eigenen Worten „ein Ende in Mittelmäßigkeit“  ■ Aus Peking Georg Blume

Er wuchs auf in den Sternstunden des chinesischen Kommunismus, studierte gemeinsam mit den Kindern Deng Xiaopings und ist bis heute das, was seine Eltern immer aus ihm machen wollten: ein echter Revolutionär. Chinas prominentester Demokratievorkämpfer Wei Jingsheng erhielt Samstag nacht nach über 18 Jahren im Gefängnis die Freiheit zurück – offiziell auf Bewährung aus medizinischen Gründen.

Doch Grund zum Jubel ist das noch lange nicht: Während seiner Haft hatte der heute 47jährige immer wieder beteuert, er werde China nie verlassen, weil ihm im Ausland die politischen Wirkungsmöglichkeiten genommen seien. Nun aber mußte der einst wegen „konterrevolutionärer Agitation“ verurteilte Wei nachgeben und noch gestern Peking in Richtung Detroit verlassen. Gut möglich, daß Wei China nie wieder sieht. Nur die nackte Bedrohung seines Lebens durch die schweren Haftbedingungen scheinen Wei zur Ausreise veranlaßt zu haben. Im taz-Interview bestätigte gestern Weis Schwester Wei Ling seinen schlechten Gesundheitszustand.

Mit der US-Reise des berühmten Dissidenten endet ein beispielloses Märtyrertum, das Wei im Westen zu einem der bekanntesten Bürger seines Landes machte. Weis Schicksalsstunde schlug 1978 während des sogenannten „Pekinger Frühlings“. Damals tobten in der Kommunistischen Partei Chinas Flügelkämpfe um die Mao- Nachfolge – so hart, daß die Parteispitze für ein paar Monate handlungsunfähig war und erstmals seit der Revolution von 1949 eine freie Meinungsaussprache erlaubte. Es entstand nicht nur eine neue chinesische Literatur und eine neue liberale Presse – es war auch die Geburtsstunde der chinesischen Demokratiebewegung. Dem vom privilegierten Kaderkind durch die Kulturrevolution zum Elektriker des Pekinger Zoos herabgestiegenen Wei fiel eine außergewöhnliche Rolle zu: Er veröffentlichte auf einer mit Wandzeitungen beschlagenen Pekinger Mauer die Aufforderung zu einer „fünften Modernisierung“ – gemeint ist die Demokratie. Kurz zuvor hatte der angehende starke Mann der KP, Deng Xiaoping, sein Programm der sogenannten vier Modernisierungen verkündet, doch dabei die Demokratisierung ausgeklammert. So wurden Deng und Wei zu Feinden. Erst nach dem Tod Dengs im Februar war überhaupt an die Freilassung von Chinas sturstem Antikommunisten zu denken.

Daß sie so prompt erfolgte, hat Wei wohl den Amerikanern zu verdanken. Seine Freilassung erfolgt offensichtlich im Rahmen der Verhandlungen rund um das Treffen von Partei- und Staatschef Jiang Zemin und US-Präsident Bill Clinton Ende Oktober in Washington. Die Amerikaner hatten Jiang erstmals den Auftritt auf dem Washingtoner Parkett ermöglicht und China das Versprechen einer „strategischen Partnerschaft“ gegeben. „Im Gegenzug erhielten die Amerikaner nichts“, sinnierte der deutsche Ex-Außenminister Hans-Dietrich Genscher noch diese Woche in Peking. Er konnte nicht ahnen, daß Weis Freilassung unmittelbar bevorstand. Doch damit nicht genug: Der US- Botschafter in Peking, James Sasser, ließ wissen, daß bald mit weiteren Begnadigungen chinesischer Dissidenten zu rechnen sei.

Richtig glücklich können diese Aussichten niemand stimmen: Je weniger Dissidenten in China, desto schwächer die Demokratiebewegung – an diese Wahrheit hatte gerade Wei bis heute geglaubt. Die schlechte Lage, daß kaum ein namhafter Demokratiestreiter in China heute noch auf freiem Fuß ist, wird nicht besser, wenn kein Dissident mehr in einem chinesischen Gefängnis einsitzt. Tatsächlich hat sich Chinas Demokratiebewegung im Exil als einflußlos auf die Zustände zu Hause erwiesen. Es ist nicht ausgeschlossen, daß sich Wei Jingsheng in den USA bald mehr ärgert als in seinem chinesischen Gefängnis. „Die, die nicht voll bezahlen, enden in der Mittelmäßigkeit“, schrieb er einst aus der Zelle.