Vom Huhn, das den Affen erschreckt

■ Jürgen Kremb hat mit der Biographie des dieser Tage aus der Haft entlassenen Dissidenten Wei Jingsheng die Geschichte eines politischen Skandals im modernen China vorgelegt

Zur richtigen Zeit das richtige Buch. Es passiert heutzutage nur noch selten, daß deutsche Leser in die privilegierte Lage geraten, in ihrer Sprache als erste über einen Politskandal aufgeklärt zu werden, der weltweit Schlagzeilen macht. Die Rede ist von dem gerade aus dem chinesischen Gulag entlassenen Wei Jingsheng, dem zweifellos hartnäckigsten Demokraten im Riesenreich der KPCh. Sein Biograph Jürgen Kremb sieht in ihm einen „unnachgiebigen Dickkopf“, der die Welt fasziniert, weil er wie kein zweiter Chinese unsere Zeit gegen die Pekinger „Despoten und Diktatoren“ aufbegehrt.

Selten gleicht eine ganze Biographie einer Skandalgeschichte. Doch diese Biographie ist genau das: Der heute 47jährige Wei Jingsheng war in der Ära Deng Xiaopings „das Huhn, das man töten muß, um den Affen zu erschrecken“, wie ein chinesisches Sprichwort besagt. Tatsächlich statuierte das Urteil mit dem der angebliche „Konterrevolutionär“, am 16. Oktober 1979 zu 15 Jahren Lagerhaft verurteilt wurde, ein politisches Exempel ohnegleichen: „Wie zuvor nur der Prozeß gegen die Viererbande um die Mao- Witwe Jiang Qing, wurde das Urteil im Staatsfernsehen verkündet.“ Dabei hatte Wei nur gewagt, in seinen Schriften die „fünfte Modernisierung“ einzufordern – gemeint war die Demokratie.

Von Anfang an war Wei mehr als nur ein politischer Gefangener: Deng Xiaoping, der laut Wei „das bißchen Ansehen, das er sich im Volk erworben hatte, dazu nutzte, sich gegen die demokratische Bewegung zu stellen“, dieser Deng brauchte einen symbolischen Gegner um die Grenze seiner Reformpolitik zu markieren. 18 Jahre später machte erste Dengs Tod möglich, daß Wei die Freiheit zurückerhielt. Sie wurde allerdings an das schwere Los des Exils gebunden.

Wie verwoben die Schicksale des gelben Kaisers und seines intimsten Feindes waren, zeigen auch die Briefe, die der Unbeugsame in Gefangenschaft verfaßte und direkt an Deng adressierte. „Was du schreibst, sind Angriffe auf unsere Führung“, hört man den leitenden KP-Sekretär der Haftanstalt schimpfen.

Das Buch weist offensichtliche Mängel auf: Es fehlt jede Einschätzung der heutigen Rolle Wei Jingshengs, seines (vermutlich geringen) Ansehens und (vermutlich gar nicht vorhandenen) Einflusses in der Bevölkerung. Nicht einmal einen Seitenblick streift die verzweifelte Situation der demokratischen Dissidenten im China Jiang Zemins. Statt dessen schreibt Kremb ein Heldenepos. Doch das ist auch wieder gut so. Der Betroffene hat es verdient.

Ohne das Vertrauen und die Identifikationsbereitschaft, die der Autor nicht nur Wei Jingsheng, sondern auch den übrigen Mitgliedern von dessen Familie entgegenbringt, wäre das Buch gar nicht möglich geworden. Es lebt in den besten Passagen, denen über die Zeit der Kulturrevolution, von den intimen Familienberichten, die das vorführen, was der Untertitel verspricht: „Das Schicksal einer chinesischen Familie“.

Einprägsam wird das Milieu der politische Elite Pekings geschildert, in das der junge Kadersohn in den sechziger Jahren hineinwächst. Wei ist einer der erste Rotgardisten, die sich von den Greueltaten der aufgehetzten Jugend abwenden. Seine Moral findet der 18jährige bei Überlandreisen, die ihm Chinas grenzenlose Armut zeigen. Wei lernt den Blick von unten. „Nur so kann ich die Gesellschaft besser verstehen“, lauten seine damaligen Gedanken – dahinter steckt die erste Abkehr vom Maoismus.

Als Wei dann 1968 mit tausend weiteren Kommilitonen zu drei Monaten „Umerziehung durch Arbeit“ verurteilt wird, ist es um den jungen Kommunisten geschehen. In ihm erwacht der „Haß gegen das System und auch gegen sich selbst“.

Es ist schließlich die Liebe zu einer Tibeterin und die Freude über das Ende der Viererbande, die aus Wei Jingsheng wieder das machen, was er immer war: der im Grunde folgsame älteste Sohn eines Moralisten, der „für seine politischen Ziele eintritt wie die kommunistischen Altrevolutionäre“.

Wie es Wei dann gelingt, 18 Jahre in chinesischen Gefängnissen und Arbeitslagern geistig unbeschadet zu überstehen, wird auch durch das Buch kaum vorstellbarer. Aber vielleicht sind es ja gerade die vorhergegangenen Greuel der chinesischen Geschichte – von Kremb so schicksalsnah dargestellt –, die für Wei die Zeit in Gefangenschaft erträglich erscheinen lassen. Wei Jingsheng ist eine historische Persönlichkeit unseres Jahrhunderts, der man mit dieser Biographie so nahe kommen kann wie kaum einem Chinesen zuvor – nicht einmal im Roman. Georg Blume

Jürgen Kremb: „Bis zum letzten Atemzug. Wei Jingsheng und das Schicksal einer chinesischen Familie“. Piper Verlag München, 304 Seiten, 39,80 DM