Angeklagter Frauenarzt weiter im Notdienst

■ Aufregung in Kaufbeuren im Allgäu: Gynäkologe arbeitet trotz Anklage wegen sexuellen Mißbrauchs von Kindern und Jugendlichen

Kaufbeuren (taz) – Ein 47jähriger Frauenarzt aus der Allgäuer Stadt Kaufbeuren muß sich Anfang Januar nächsten Jahres vor dem Jugendschöffengericht wegen sexuellen Mißbrauchs von Kindern und Jugendlichen verantworten. Trotz der Anklageerhebung praktiziert der Gynäkologe weiter, was bei vielen Frauen auf Unverständnis stößt. „In Kaufbeuren und Umgebung herrscht sehr viel Angst“, sagt Cornelia vom Frauenhaus der Stadt. „Bei so einem Vorfall, also wenn Anklage erhoben ist, müssen einfach vorbeugende Maßnahmen ergriffen werden. Das hat mit einer Vorverurteilung nichts zu tun.“

Franziska Stoll, die Leiterin des Kaufbeurer Frauenhauses, reagiert ähnlich. Sie meint, es könne, bei aller Unschuldsvermutung, doch nicht angehen, daß bei einem so dringenden Verdacht überhaupt nichts unternommen wird. Mehr noch: Der angeklagte Frauenarzt ist sogar zum gynäkologischen Notdienst eingeteilt. „Solange Frauen sich freiwillig entscheiden können, ob sie zu diesem Arzt gehen oder nicht, mag das ja noch angehen“, so Franziska Stoll. „Aber die Sache mit dem ärztlichen Notdienst – das ist absolut nicht in Ordnung. In einer Notsituation hat keine Frau die Chance, sich anders zu entscheiden.“ Sie könne die Kassenärztliche Vereinigung und den Ärztlichen Kreisverband nicht verstehen, warum in diesem Fall keine Reaktion erfolgt.

Beim Ärztlichen Kreisverband gibt man sich abweisend. „Wir haben im Vorstand beschlossen, in dieser Sache keine Stellungnahme abzugeben. Der Arzt ist noch nicht verurteilt, wir äußern uns nicht“, erklärt der 1. Vorsitzende des Kreisverbandes, Klaus Schenk. Und auch bei der Kassenärztlichen Vereinigung in Augsburg gibt es nichts Konkretes. Ein Entscheidungsträger sei kurzfristig nicht erreichbar. Freilich regt sich längst auch in der Ärzteschaft Unmut. Zwei Ärzte einer Kaufbeurer Praxisgemeinschaft sahen sich genötigt, in der Lokalzeitung ein Inserat zu schalten, in dem es heißt: „Aus gegebenem Anlaß weisen wir darauf hin, daß zwischen uns und dem gleichnamigen Frauenarzt in Neugablonz keinerlei verwandtschaftl. Verbindung besteht.“ Die Anwältin, die eine Reihe von betroffenen Frauen vertritt, möchte in der Sache kein Interview geben, ebensowenig die Gleichstellungsbeauftragte der Stadt.

Der Chef der Kemptener Staatsanwaltschaft, Günther Meltendorf, bestätigt, daß nach umfangreichen Ermittlungen bereits im Oktober 1996 Anklage gegen den Kaufbeurer Gynäkologen erhoben wurde. „Gegenstand dieser Anklage sind fünf Fälle des sexuellen Mißbrauchs von Jugendlichen, dabei ein Fall wegen Mißbrauchs eines Kindes und zwei Fälle wegen Beleidigung, und zwar auf sexueller Basis.“ Als die Sache bekannt wurde, hatten sich weit mehr Frauen gemeldet, angeklagt wurde der Arzt aber nur wegen der genannten Fälle. Daß zwischen Anklageerhebung und der Hauptverhandlung soviel Zeit verstreicht, liege an der langen Dauer bis zur Erstellung der angeforderten Gutachten, so der Staatsanwalt.

Ein engagierter Bürger der Stadt Kaufbeuren hat zwischenzeitlich zum zweiten Mal die Kassenärztliche Vereinigung in Augsburg angeschrieben. Schon vor Monaten, so Robert Michael Schlittenbauer, habe er die Standesorganisation auf die Sache mit dem gynäkologischen Notdienst hingewiesen, geschehen sei nichts. Vielmehr sei dieser Arzt erneut zum Notdienst eingeteilt worden; zum letzten Mal vom 29. Oktober bis 3. November.

Auch der Leitende Oberstaatsanwalt Günther Meltendorf läßt, wenn auch äußerst vorsichtig, anklingen, daß die Sache auch noch für die Verantwortlichen im Ärztlichen Kreisverband heikel werden könnte. Dann nämlich, wenn es zu einer Verurteilung dieses Arztes käme und sich herausstellen sollte, daß er in der Zeit zwischen Anklageerhebung und Hauptverhandlung erneut im Sinne der Anklage straffällig geworden ist. Dann müßte nämlich geprüft werden, „ob hier möglicherweise von seiten der Personen, die diese Regelung mit dem Notdienst getroffen haben, ein strafbares Verhalten vorliegt“. Klaus Wittmann