Auf den Spuren des Familienromans

■ Alan Berliners Dokumentarfilm „Nobody's Business“ als Rededuell von Vater und Sohn

Oscar Berliner besteht darauf, ein normaler Mann zu sein. „Ich war beim Militär, habe geheiratet und die Familie ernährt. Ich habe hart gearbeitet und hatte mein eigenes Geschäft. Das war's. Kein Stoff für einen Film.“ Der Mann hätte wahrscheinlich recht, weigerte er sich nicht so hartnäckig, auch nur einen Türspalt zu diesem Leben zu öffnen. Er ist keiner, der dauernd seine Familienfotos vorführen möchte. Es ist „Nobody's Business“, es geht keinen etwas an.

Den eigenen Sohn aber schon, und der rückt eines Tages mit Stativ und Kamera an und stellt seinen alten, kranken Vater zur Rede. Alan Berliner, nicht zu verwechseln mit dem französischen Filmregisseur Alain Berliner („Mein Leben in Rosarot“), hatte sich bereits 1991 in dem Film „Intimate Stranger“ auf die Spuren seiner verborgenen Familiengeschichte begeben. Die jüdischen Vorfahren stammen irgendwo aus Rußland, heißt es, nein, Polen. Beides ist richtig, denn das Dorf, in dem die Berliners lebten, gehörte früher zu Rußland und liegt im heutigen Polen. Der knurrige Oscar Berliner zeigt erstaunlicherweise wenig Interesse an den Nachrichten aus seiner Familiengeschichte, mit denen ihn der Sohn vor laufender Kamera konfrontiert. Seine Weigerung, Details des eigenen Familienhintergrunds überhaupt zur Kenntnis zu nehmen, tarnt er nur schlecht mit einer existentialistischen Haltung, für die nur der Augenblick zu zählen scheint. Der sture alte Mann hat etwas zu verbergen, aber was?

Für Alan Berliner bildet die Erforschung des Familienstammbaums den Vorwand, mit dem Vater ins Gespräch zu kommen. Sein Einsatz ist weit egoistischer als das distanzierte Interesse an so etwas wie „oral history“ und der naiven genealogischen Hypothese, daß alle mit allen verwandt sind. Die Ehe Oscar Berliners mit einer französischen Schauspielerin scheitert nach nur wenigen glücklichen Jahren. Eines Nachts weckt Oscar Berliner seine beiden Kinder auf und stellt sie vor eine schroffe Alternative: Wollt ihr, daß Mutter glücklich ist und woanders lebt oder unglücklich mit uns? Alan Berliner hat mit seinem Vater noch eine Rechnung offen. Warum kam es zu der Scheidung? Warum hat er seine Mutter nicht geliebt? Der Film ist nicht zuletzt ein Verhör des Vaters durch den Sohn.

Geht das noch jemand etwas an? Die Intimitätsverletzung des Films hat eine humoristische, schrullige Seite. Der kauzige Alte hält die künstlerischen Bemühungen seines Sohnes für vertane Zeit. Er hätte Anwalt werden können oder Ingenieur. Statt dessen verschwende er seine Talente für Filme, die niemanden interessierten. Gut gegeben. So sehr sich Oscar Berliner gegen die Befragung wehrt, insgeheim hat er die späte Beschäftigung mit der eigenen Vergangenheit längst akzeptiert. Die Strategien des Sohnes durchschaut er von Anfang an.

Die andere Seite von „Nobody's Business“ erzeugt ein Unbehagen, das man aus Filmen wie Claude Lanzmans „Shoah“ kennt, wo der unerbittliche Dokumentarist die Grenzen zum schmerzlichen Erinnern überschreitet und mit bohrenden Fragen auf Antworten insistiert. Aber der Redekampf zwischen Vater und Sohn ist keiner zwischen Täter und Opfer, sondern einer gleichwertiger Kontrahenten mit verschiedenen Strategien. Alan Berliner gelingt das Kunststück, seinen Film nicht mit Psychotherapie zu verwechseln. Sein Gestaltungswille, Anleihen beim experimentellen Film und ein ausgeprägtes Rhythmusgefühl bringen die kämpfenden Akteure immer wieder auf Distanz.

Alan Berliner will in „Nobody's Business“ die Geschichte seiner Familie an das Schicksal osteuropäischer Juden in der neuen Welt anbinden. Gelungen ist allerdings etwas anderes: ein rührendes Stück über familiäre Liebe. Harry Nutt

„Nobody's Business“, Regie: Alan Berliner, Kamera: Phil Abraham, Alan Berliner, David W. Leitner, 60 Minuten, USA 1996