Parias der Hetero-Familie

Familienbande: Wer über eine Renaissance der Familie spricht, der sollte über ihre homosexuellen Kinder nicht schweigen. Der Streit um die rechtliche und symbolische homosexuelle Lebensgemeinschaft ist auch ein Bruch mit der traditionellen Familienstruktur  ■ Von Jan Feddersen

D. ist 33 Jahre alt. Er wohnt erst seit neun Jahren in der Großstadt. Seine Eltern leben sechs Autostunden entfernt in der Provinz. Einmal im Monat fährt er sie besuchen. Es gibt außer zu Geburtstagen oder Familienfeiern keinen speziellen Grund für diese Anhänglichkeit. Auf die Frage nach dem Warum sagt er nur, seine Mutter und seinen Vater zu lieben, so, wie ein Kind es eben tun sollte.

Aber dann müsse ja sein Bruder ein gebrochenes Verhältnis zu den Eltern haben – schließlich komme der sie ja nur sporadisch besuchen. Nein, an dem sei es nicht. Doch der hat Frau und zwei Kinder, eine eigene Familie also. D. sagt damit, daß es nun eine wichtigere Instanz im Leben seines Bruders gebe als die der Familie, in der er Kind war.

Eigentlich könnte D. das gleiche für sich beanspruchen. Er hat seit vier Jahren einen Lebensgefährten. Lebt also in einem Verhältnis, das heterosexuellerseits letztlich in eine eheähnliche Gemeinschaft, in die Ehe selbst, ja, wohl zu einer Familie mit Nachwuchs führen würde. Aber dieser Gedanke liegt ihm fern – er kann sich nicht vorstellen, daß es in einem homosexuellen Leben familiäre Verhältnisse geben kann, die sich räumlich, personell und seelisch von denen der Familie, in die er hineingeboren wurde, nicht unterscheiden. Sich selbst bezeichnet er als ledig. Ist er woanders und sagt, er fahre „nach Hause“, meint er sein Elternhaus. Er ist ein ewiger Sohn.

Eigentlich schämt D. sich. Er weiß, daß er die Erwartung seines Vaters und seiner Mutter enttäuschen wird – selbst eine Familie nach deren Gusto zu gründen. Zugleich ist es ihm nicht möglich, sich ein anderes Glück vorzustellen. Seine Phantasie ist zu eng, eine gleichwertige Alternative mit einem Mann sich auszumalen. Das würde bedeuten, sich von den Wünschen seiner Eltern zu distanzieren – und nötigenfalls mit ihnen den Streit zu suchen.

Er kann es aber nicht – weil er immer noch daran glaubt, daß die klassische Familie ein Hort des Friedens und des Schutzes ist, der mit Zwist nicht belastet werden darf. Denn lohnt sich das Risiko überhaupt, mit den Eltern möglicherweise zu brechen? Vielleicht hat der Lebensgefährte dann längst einen anderen? D. hält homosexuelle Verhältnisse für fragil, er traut ihnen sowenig wie sich selbst. Die Besuche bei seinen Eltern kommen Bußgängen gleich. Er will signalisieren: Ihr dürft mich nicht ablehnen; ich bin zwar schwul, dafür aber immer für euch da! Die ewigen Söhne sind fast alle so wie D. Ihnen hat die psychische Ordnung namens Familie gerade das verweigert, was idyllischen Sichtweisen zufolge gerade Eltern leisten müssen: die bedingungslose Liebe zu ihren Kindern, die grundsätzliche Annahme als Menschen, egal, wie Gott oder ein sonstiges Schicksal sie geschaffen hat.

Insofern wundert es nicht, daß die Idee der Familie bei schwulenbewegten Männern oder lesbenbewegten Frauen nicht gerade Sehnsüchte weckt. Ihre Coming-outs konnten sie nicht mit Hilfe der Familie gegen die Gesellschaft durchsetzen, sondern meist nur gegen sie. Wer über eine Renaissance der Familie spricht, soll über Homosexualität, über die schwulen und lesbischen Kinder nicht schweigen. Es sind, nüchtern gesehen, die Parias der heterosexuellen Familie.

Homosexuelle haben von der kollektiven psychischen Konstitution viel gemein mit Juden. Mitglieder beider Gruppen wissen früh, lange bevor sie einen Begriff für das Begehren des eigenen Geschlechts gefunden haben, lange, ehe sie konkret mit antisemitischen Haltungen konfrontiert wurden, daß sie anders sind als die anderen. Es gibt einen Unterschied zwischen beiden Minderheiten, und der ist zentral: Juden wußten sich als Juden familiär geschützt, Schwule oder Lesben nicht.

Als die spätere Politikwissenschaftlerin Hannah Arendt mit ihrer Familie in eine andere Stadt umzog, bekam sie vor dem ersten Tag in der neuen Schule von der Mutter eingeschärft: Sollte sie irgend jemand als Jüdin diffamieren, habe sie gefälligst umgehend wieder nach Hause zu kommen; sie, also die Mutter, werde sich umgehend beschweren – was dann in der Tat auch passierte. Dazu gibt es für einen Homosexuellen keine Entsprechung. Welcher Junge, der keine Lust auf den Werkunterricht hat und lieber Pullover stricken lernen möchte, traut sich schon, diesen Wunsch durchzusetzen? Welche Familie ist schon so modern, auf die tradierten Bilder des Männlichen und des Weiblichen verzichten zu wollen und zu können? Anders formuliert: Welcher Junge wagt schon in der Pubertät, das sexuelle Klassenziel offen zu verweigern?

Umfragen deuten seit etwa zehn Jahren einen Mentalitätswandel in der deutschen Bevölkerung an. Nein, Schwule sollen nicht mehr vergast werden, heißt es. Das liberale Credo „leben und leben lassen“ schließt Homos nicht mehr aus. Fragt man jedoch Eltern – jeder erhebe mal selbst eine Privatstichprobe –, ob es ihnen egal ist, welcher Sexualität ihr Sprößling später frönt, wird noch ein verhaltenes Ja zur Antwort kommen. Doch schon der scherzhaft gemeinte Spruch beim Anblick eines männlich Neugeborenen, „klare Sache, der wird schwul“, versetzt selbst Eltern aus dem linksalternativen Milieu in Panik.

Interviews mit jungen Homosexuellen über ihr Coming-out, also über die Zeit und den Prozeß der Schwulwerdung, strafen die Theorien, wonach doch inzwischen alles nicht mehr so schlimm ist mit der Homodiskriminierung, meist Lügen. In der Regel wird dieser Lebensabschnitt traumatisch, allzu selten als nur irritierend wahrgenommen.

Insofern ist der mahnende Zeigefinger Alexander Arenbergs, daß es sich bei dem politischen Projekt der Homoehe um ein Mißverständnis handelt, weil schwule Männer und lesbische Frauen keine Kinder haben können, unpassend, weil den Charakter familiärer Zusammenhänge verfehlend. Der Streit um die rechtliche und – wichtiger noch – symbolische homosexuelle Lebensgemeinschaft ist selbstverständlich auch einer um den Bruch mit der traditionellen Familienstruktur. Einer aber, der nur und mindestens das Gebäude der Familie gründlich mit neuen Stützpfeilern versehen will. Denn es ist ja nicht wahr, daß Homosexuelle keine Kinder erziehen, daß es zwischen schwulen Männern und lesbischen Frauen keine produktiven Geschlechterspannungen geben könnte, daß es also auf das biologische Geschlecht ankomme, um so etwas wie eine Familie zu kreieren.

Die teilweise unsägliche Gender-Debatte – die so tut, als könne (und sollte?) man sein kulturelles Geschlecht, sein sexuelles Triebschicksal wechseln wie eine Mode – klärt doch zumindest darüber auf, daß männliche und weibliche Anteile in den Menschen nicht an die sekundären Geschlechtsmerkmale, an solche Dinge wie Vagina, Penis und Brüste gekettet sind.

Was dem Streit um neue Formen der Familie gut anstünde, wäre ein Nachdenken über die verheerenden Folgen, die Eltern immer noch anrichten, wenn sie ihre Kinder auf bestimmte Rollenbilder festlegen wollen. Besonders in Deutschland haben diese oftmals wie zementiert wirkenden Bilder eine deprimierende Tradition. Jungs müssen viel zu oft immer noch die Harten sein, Mädchen die Zarten. Das Gebirge an Angst vor dem Weiblichen, vor offenen Rollenmustern, das unter dem nationalsozialistischen Regime ideologisch seine politische Entsprechung fand, ist erst wenige Meter abgetragen.

Beispiele aus den USA – wo der Kampf der Homosexuellenbewegung ausdrücklich auch einer um die Konstruktion besserer, nicht an die Mann-Frau-Dualität geknüpfter Familien ist –, aus Dänemark, Schweden oder Neuseeland beweisen, daß die Homoehe Gegner im fundamental-christlichen oder vormodern-konservativen Milieu hat. (Mancherorts sogar in einer homosexuellen Szene, die die Familie per se als menschenfeindlich begreift. Ist es strafbar, das als infantilen Unfug zu bezeichnen?) Bewiesen wird in anderen Ländern, daß Familienverbände über alle Generationen hinweg aggressionsfreier funktionieren, wenn die Erwartungen bei den Rollenbildern strikt abgerüstet worden sind.

Menschen sind halt verschieden: Danach leben konventionelle Familien nicht oft. Öfter werden väterliche wie mütterliche Ängste und Frustrationen und Wünsche auf die Kinder delegiert – was bei Gott für den betroffenen Nachwuchs einer Drohung gleichkommt.

Was die Sache mit den Kindern anbetrifft, noch dies: Wer argumentiert, daß eine Familie nur dann gelingt, wenn beide Nachwuchs zeugen, meint insgeheim auch, daß die Liebe wenig zählt. Und daß der Zweck der ganzen Veranstaltung die Kinderproduktion ist. Wie trostlos. Und: arme Kinder. Ihre Eltern konnten sich offenbar für kein anderes gemeinsames Hobby entscheiden.

Aber gewiß, natürlich können zwei Menschen sich wünschen, Kinder aufzuziehen. Mann und Frau können das biologisch bewerkstelligen, Frau und Frau per Befruchtungstechniken. Für den Rest, für schwule Männer beispielsweise, gäbe es die Möglichkeit der Adoption. Aber das ist Zukunftsmusik – bei sofortiger Realisierung würden selbst 80 Prozent der taz-LeserInnen empört aufschreien, schätzungsweise. Der Streit und die Praxis um bessere Familien wird so gesehen noch lange dauern.

Bei D. ist der Ausgang der Geschichte übrigens offen. Erste Risse hat er zwischen sich und seinen Eltern schon feststellen müssen. Manche würden sagen, na, mit 33 Jahren wurde das aber auch Zeit. Denn welcher Partner mit Selbstachtung macht das schon mit – nicht der sonstigen Familie vorgestellt zu werden, als Schwiegersohn sozusagen? Und wer hat schon wirklich Lust, die homosexuelle Subkultur samt Dunkelräumen und Fickkabinen als Alternative zu preisen? Als Spiel mag das angehen. Aber als wirkliches Leben?