Politikers Block

Nach dem Scheitern der Steuer- und Rentenpolitik reden alle vom Reformstau. Die Bonner Politik ist mental nicht gut drauf. Ein Versuch über den „politician's block“ mittels einiger Abschweifungen in die Literatur  ■ Von Harry Nutt

Einen nicht unbeträchtlichen Teil seines Ruhms verdankt der 1996 gestorbene Schriftsteller Wolfgang Koeppen einem nie fertiggestellten Roman. Seit den sechziger Jahren hatte der Suhrkamp-Verlag immer wieder das Erscheinen eines neuen Werks seines Autors angekündigt, der Anfang der fünfziger Jahre mit drei Romanen in kurzer Folge für Furore gesorgt hatte. Koeppen selbst hatte in Interviews versprochen, in wenigen Monaten zum Abschluß zu kommen. „In Staub mit allen Feinden Brandenburgs“ sollte das Buch heißen. Bis auf ein paar Fragmente und Romananfänge erschien von Koeppen jedoch kein größerer, abgeschlossener Roman mehr. Von den Literaturkritikern wurde mangels eines handfesten Werks fortan buchstäblich Koeppens Schweigen besprochen. Der „writer's block“ als Erfolgsgeschichte. Koeppen selbst betonte wiederholt, in einem Roman zu leben, was möglicherweise verhindere, ihn zu schreiben.

Das wäre ein schönes Wort aus dem Mund von Bundeskanzler Kohl. Er lebe nun einmal in der Politik, das verhindere gegenwärtig, sie zu machen. Womit wir beim Bonner Reformstau wären. Es geht nicht so recht voran im neuen Deutschland. Der Aufbau Ost? Ein Trauerspiel. Die Steuerreform? Kannste abschreiben. Die Rentenpolitik? Gescheitert. Europa? Verfangen in 3,0. Außer der Herabsetzung der 0,8-Promille- Grenze werde wenig entschieden, und selbst dabei tut man nur so, als ob. So und ähnlich gehen die Reden über die Lähmungserscheinungen der Bonner Politik. Alles ist irgendwie blockiert.

Bundespräsident Herzog orientierte sich angesichts dessen an der Vorbildrolle seines Vorgängers und versuchte es mit einer paradoxen Intervention. Man leide weniger an einem Erkenntnis- als an einem Umsetzungsproblem, lautete seine Diagnose. Deutschlands Stellung in der Welt stehe auf dem Spiel. Alles gehe immer schlechter. Es müsse ein Ruck durch den trägen Volkskörper gehen. Das hatte ein wenig vom wohlmeinenden Einreden auf einen Depressiven: Laß dich doch nicht so hängen.

Vielleicht ist, um noch einmal zum Schriftsteller Wolfgang Koeppen zurückzukehren, dem „politician's block“ ja unter Berücksichtigung des „writer's block“ beizukommen. Koeppen hatte 1953 einen Roman mit dem Titel „Das Treibhaus“ veröffentlicht, in dem der Bonner Bundestagsabgeordnete Keetenheuve am Leben, an der Liebe und an der Politik verzweifelt und am Ende Selbstmord begeht. Keetenheuves Problem war keineswegs, daß nichts voran ging in der Politik. Es ging ihm alles viel zu schnell: mit dem Wirtschaftswunder, der Bewältigung des Faschismus und der militärischen Wiederbewaffnung. Der Pazifist Keetenheuve war das genaue Gegenteil eines Politikers, den man sich noch immer als pragmatischen Machtmenschen denkt. In dem Bonner Treibhaus sah sich der sensible Held Keetenheuve, ein Freund der amerikanischen Literatur, denn auch als „Ausländer des Gefühls“, ein emotionaler Dissident. Wie unlängst Günter Grass schämte sich bereits Koeppens Romanfigur für sein „zum Wirtschaftsstandort verkommenes Land“.

Das wurde in den sechziger Jahren die angestammte Haltung des Intellektuellen. Man hatte sein Land skeptisch im Auge zu behalten. Dabei gediehen die Großphantasien der Schriftsteller im politischen Provisorium Bundesrepublik nicht einmal schlecht. In dem um Demokratie ringenden Staatswesen galten die Schriftsteller eine Zeitlang als Leitfiguren einer Hoffnung auf eine bessere Politik. Sicher, es war alles zu schnell gegangen, das Land war in einer Art Brutkasten der internationalen Staatengemeinschaft aufgepäppelt worden. Die Frühgeburt Deutschland wurde nicht zuletzt durch die Milch der Dichter genährt. Die Aufgaben waren einigermaßen klar verteilt. Politik war organisiertes Stückwerk, immer gab es etwas nachzuverhandeln, an den Ostverträgen zum Beispiel. Es war die Zeit der pragmatischen Organisierer wie Ehmke, Bahr und Genscher.

In einem Land, das statt einer Verfassung ein Grundgesetz hat, war alles nur vorübergehend angelegt. Das Provisorium Bundesrepublik funktionierte nicht wie ein Behelf, sondern ehe wie ein work in progress, auch wenn es sich die meisten im Modell Deutschland recht gemütlich eingerichtet hatten. Nie und nimmer aber hätte einer wie Egon Bahr die Ostverträge als sein Lebenswerk angesehen, wie es Minister Blüm gern mit der Konstruktion einer Pflegeversicherung tut. Die damaligen Politiker besaßen ein wenig ausgeprägtes Werkwollen. Die Selbstbeschreibung des Politikers unserer Tage klingt bisweilen wie ein Redebeitrag einer Gesprächstherapie.

Wolfgang Koeppen schwieg zur Zeit der Ostverträge schon. Als kein neuer Roman mehr gelingen wollte, gingen nicht wenige Kritiker hin, gerade in Koeppens Schweigen das Scheitern des Unternehmens Bundesrepublik erkennen zu wollen. Wo die Dichter blockiert sind, kann etwas mit den Verhältnissen nicht stimmen.

Die Psychologie Freuds spricht in diesem Zusammenhang nicht von Blockade, sondern von Hemmung. Sie ist Ausdruck einer Funktionsstörung des Ich. „Wir haben ganz allgemein die Einsicht gewonnen“, heißt es in Freuds Aufsatz „Hemmung, Symptom und Angst“ von 1926, „daß die Ich- Funktion eines Organs geschädigt wird, wenn seine Erogenität, seine sexuelle Bedeutung, zunimmt. (...) Wenn das Schreiben, das darin besteht, aus einem Rohr Flüssigkeit auf ein Stück weißes Papier fließen zu lassen, die symbolische Bedeutung des Koitus angenommen hat oder wenn das Gehen zum symbolischen Ersatz des Stampfens auf dem Leib der Mutter Erde geworden ist, dann wird beides, Schreiben und Gehen, unterlassen, weil es so ist, als ob man die verbotene sexuelle Handlung ausführen würde. Das Ich verzichtet auf diese ihm zustehenden Funktionen, um nicht eine neuerliche Verdrängung vornehmen zu müssen, um einem Konflikt mit dem Es auszuweichen.“

Bezogen auf die Bonner Hemmungen bliebe also zu fragen, worin der Konflikt der gegenwärtigen Politik mit dem Es bestehen könnte. Für die Schreibhemmung eines Schriftstellers gibt es ja einen Strauß plausibler Erklärungen. Sie resultiert nicht zuletzt aus der Angst vor der Vollendung des Werks.

Ich erinnere mich gut daran, wie ich als Germanistikstudent an den Romanen Wolfgang Koeppens vor allem wegen der geheimnisvollen Aura des Verstummens Gefallen fand. Koeppen hatte ja etwas geschaffen, und jetzt saß der freundliche alte Mann einfach in seinem Zimmer, schrieb unaufhörlich vor sich hin, gab seinem Verleger Unseld, so sehr der auch drängelte, aber nichts zu publizieren.

Ganz ähnlich verhielt es sich mit den Büchern von Elias Canetti, der in über 60 Jahren als Schriftsteller eine äußerst sparsame Veröffentlichungspolitik betrieben hatte. Mehr als 30 Jahre hatte Canetti an seinem Hauptwerk gearbeitet und wußte es später immer so darzustellen, als habe er es unter keinem Umständen früher abschließen wollen. Wenn er gewußt hätte, daß er so alt werde, lautete einer seiner Aphorismen, dann hätte er mit allem noch länger gewartet. Canetti hatte nicht über irgendein Thema gearbeitet. „Masse und Macht“ handelt gewissermaßen vom Zentrum der Politik.

Die Beschäftigung des Autors mit dem eigenen Werkgebäude beeindruckt den jungen Leser, selbst meilenweit davon entfernt, ein Werk zustande zu bringen. Canetti beschäftigt sich beinahe ausschließlich mit der Frage, wie Machthaber ihr eigenes Werk und Überleben schon zu Lebzeiten organisieren.

Wo die Großen vor ihrem Werk verzagen, wächst die Neugier des gewöhnlichen Lesers. Als Heiner Müller in Zweifel fiel über sein eigenes Schaffen, beschäftigte er sich mittels eines gedichtähnlichen Textes mit der Schreibstörung des Historikers und Literaturnobelpreisträgers Theodor Mommsen. „Die Frage warum der große Geschichtsschreiber/Den vierten Band seiner RÖMISCHEN GESCHICHTE/Den lang erwarteten über die Kaiserzeit/Nicht geschrieben hat beschäftigt/Die Geschichtsschreiber nach ihm.“ Heiner Müller ahnt etwas von dem Geheimnis von „Mommsens Block“, als er in einem Café ein belangloses Gespräch von mittleren Akteuren aus der Wirtschaftsbranche belauscht. „Tierlaute wer wollte das aufschreiben“ artikuliert Müller seine Geringschätzung des Karrieregeschwätzes vom Nebentisch. Wo ein jeder klug daherredet, schüttelt es die großen Geister. Das Wichtigste ist ohnehin schon gesagt. „Haß lohnt nicht Verachtung läuft leer/ (...) Wissend der ungeschriebne Text ist eine Wunde/Aus der Blut geht das kein Nachruhm stillt/Und die klaffende Lücke in ihrem Geschichtswerk/ War ein Schmerz in meinem wie lange noch atmenden Körper.“

Folgt man den Dichtern, dann scheint die Lähmung der Bonner Politik von einer Art unzureichendem Abschluß der alten Bundesrepublik herzurühren. Nicht die nächste Wahl und ihr ungewisser Ausgang hält sie ab vor wegweisendem Handeln, sondern eine Angst vor dem großen Ungewissen. Der Kanzler wäre Mommsen, der den letzten Teil nicht mehr zu Ende bringen will, weil der glücklichste Part schon vorüber ist. Alle anderen wären die beiden Café- Besucher in Müllers Gedicht.

Vielleicht sollte man mit der Zusammenführung von Dichtung und Politik aber auch nicht zu weit gehen. Der Dichter hat einen Vorteil. Aus seinem Schweigen erwächst so etwas wie Macht. Der Politiker aber muß reden. Wenn er verstummt, umweht ihn keine Aura. Er wirkt höchstens lächerlich. Da helfen keine Therapievorschläge noch ein Ruck. Vielleicht reicht aber schon ein wenig Beschäftigung, zum Beispiel das Stühlerücken eines Umzugs.