■ Was den Debatten über die Behebung des Rentendebakels und den verschiedenen zur Diskussion gestellten Lösungswegen zugrunde liegt:
: Eine Frage der Gerechtigkeit

So ganz nebenbei ließ Andrea Fischer, Sozialpolitikerin der Bündnisgrünen, dieser Tage folgende Bemerkung fallen: „Die Rentenfrage ist von einer Sache der Alten zu einer Sache der Jungen geworden.“ Damit ist nicht ein künftiger, sondern ein schon voll in Gang gebrachter Generationskonflikt auf den Begriff gebracht. Die Generation, die in 10 bis 20 Jahren „auf Rente“ gehen wird, sieht sich dem Vorwurf ausgesetzt, weder genug Sach- noch Humankapital (in Form produzierter und großgezogener Kinder) hervorgebracht zu haben, um den erwarteten „Rentnerschub“ zu bewältigen. Das gegenwärtige Rentensystem, so Experten- wie Stammtischrunden, verfällt der Ablehnung, weil es seine Leistungen nur noch um den Preis immer größerer Ungerechtigkeit im Verhältnis der Generationen erbringen kann. Daher die Schubkraft der Forderung nach Abbruch und Neuorientierung.

In der gegenwärtigen Rentendiskussion wird, als ob es die größte Selbstverständlichkeit wäre, ein ideologisch verkürzter Begriff von Gerechtigkeit transportiert. Als alleiniges Kriterium erscheint das Äquivalenzprinzip. Die Leistung der Beitragszahler wird mit einer Gegenleistung, der Rente, abgegolten. Die Logik der Leistungsgerechtigkeit scheint aus dem Versicherungssystem selbst hervorzugehen. Sie scheint dieser „Sphäre der Gerechtigkeit“ angemessen. Könnte man nicht sogar sagen, daß der Staat selbst ein Versicherungssystem ist, dem ich Beiträge entrichte, auf daß er mich schütze vor unwägbaren zukünftigen Risiken?

Die Vorherrschaft der Leistungsgerechtigkeit wird auch mit der These vom gesellschaftlichen Wertewandel untermauert. Der Trend zur Individualisierung von Lebensführung und Lebensstil verstärkt den strikten Vertragsgesichtspunkt. Schließlich: Wenn ich von der Leistungegerechtigkeit, vom „Kontraktualismus“ ausgehe, erspare ich mir die peinliche Frage, woher eigentlich die Motivation für eine andere Praxis von Gerechtigkeit kommen soll. Egoismus ist schließlich, das beweist die Alltagserfahrung, der zuverlässigste Begründungsanker.

Gegen die alleinige Vorherrschaft des Gerechtigkeitskriteriums Beitragsleistung/Rente wird, zum Beispiel seitens der Bündnisgrünen, empirisch geltend gemacht, daß es die gesellschaftliche Wirklichkeit verfehle. Erwerbsbiographien, vor allem von Frauen, entsprechen nicht mehr dem Idealtypus des „Eckrentners“, der 45 Einzahljahre und konstante, möglichst sogar ansteigende Rentenbeiträge ausweist. Beschäftigungsgrad wie Lohnhöhe unterlägen nicht der individuellen Lebensplanung. Diese empirischen Einwände münden im Vorschlag zu einer Erweiterung des Gerechtigkeitsbegriffs, genauer, zu einer Kombination des Leistungs- mit dem Bedarfskriterium. So kann man den entsprechenden Gesetzentwurf der Bündnisgrünen lesen.

Unterstützung erfährt diese Art von Kombination bei den Theoretikern des „sozialstaatlichen Republikanismus“. Sie haben eine „Moralökonomie der Rentenversicherung“ entdeckt, der zufolge unser Sozialstaat von normativen Prinzipien durchdrungen ist, die sich in drei Gerechtigkeitstypen niedergeschlagen haben: der Leistungsgerechtigkeit, der Teilhabegerechtigkeit (am gesellschaftlichen Reichtum) und der Bedarfsgerechtigkeit (in Form von Geldtransfers zur Sicherung eines Mindeststandards). Die Solidargemeinschaft, die sich aus diesen Gerechtigkeitsquellen speist, entsteht allerdings keineswegs naturwüchsig als Vergemeinschaftung. Sie muß politisch hergestellt und am Leben gehalten werden. Es handelt sich um identitätsstiftende Haltungen der Bürger. Fällt dieser Kitt heraus, so geht die Gemeinschaft flöten. Die Folge: gesellschaftlicher Auseinanderfall, Anomie.

Solche Überlegungen klingen vernünftig, sind vielleicht sogar verbreiteter als die angeblich dominante Leistungsgerechtigkeit, obwohl es schwierig wäre, das empirisch nachzuweisen. Aber der appellatorische Charakter der „republikanischen“ Sozialstaatsthesen springt ins Auge. Muß man nicht statt der Kongruenz von der Konkurrenz der drei genannten Gerechtigkeitsvorstellungen ausgehen? Und wird diese Konkurrenz nicht das ganze schöne Konstrukt „Solidargemeinschaft“ in die Luft sprengen? In Frage steht: Was veranlaßt einen jüngeren Renteneinzahler, eine künftige, sichere Verletzung des Äquivalenzprinzips in Kauf zu nehmen, mehr einzuzahlen, als er herausbekommen wird? Ein Übel, das sich wahrscheinlich bei jeder Reform der Rentenversicherung einschließlich der Biedenkopfschen Grundrente einstellt?

Gerechtigkeitsideen entstehen und wandeln sich nicht in einem abgedunkelten Diskursraum. Eine erweiterte Fassung des Äquivalenzprinzips, vielleicht sogar seine Einschränkung, hängen von der gesellschaftlichen Anerkennung derer ab, die begünstigt werden sollen. Hier fällt jedem Beobachter von Alltagsreaktionen eine Paradoxie auf. Wenn vom Alter die Rede ist, wünscht sich jedermann/ frau ein langes Leben, möglichst über die 80 hinaus. Wir konstatieren ein allgemein anerkanntes Bedürfnis. Dem entspricht aber in keiner Weise eine gesellschaftliche Anerkennung dieser Gruppe bzw. ihrer (möglichen) Lebensformen. „Anerkennung“, man könnte auch „Achtung“ sagen, ist ein Geschäft auf Gegenseitigkeit. Ohne Anerkennung keine Selbstanerkennung und vice versa. Wir erkennen die Würde des anderen an, damit aber auch ein „menschenwürdiges“ Leben, womit bestimmte „basic rights“, gewissermaßen als Minimalprogramm, gesetzt sind. Wenn aber Achtung intersubjektiv ist, müssen die Alten als Person und erst recht als Gruppe sich artikulieren können und wollen.

Was können die Alten an „immateriellen Gütern“ einbringen, so daß es sich lohnt, ein wenig für sie zu bluten? Eine ganze Menge. Es gilt, sie zu fordern, ihnen Rahmenbedingungen zu schaffen, z.b. für die Weitergabe ihrer beruflichen Erfahrungen. Dem ist der Arbeitsmarkt allerdings ebenso feindlich wie die vorherrschende Ideologie. Also müssen die Alten fighten. Schließlich steht ein Wandel der gesellschaftlichen Vorstellungskraft in Frage. Und genau hier gerät die viel gebashte Generation der 68er ins Blickfeld. Die Werbebranche hat bereits Experten angesetzt, um ihre künftigen, natürlich gehobenen, Konsumwünsche auszumachen. Haben die 68er nicht eine „zweite Chance“ verdient? Wenn schon nicht die Gesellschaft, so könnten sie wenigstens das Altern revolutionieren. Aber wahrscheinlich haben schon fast alle private Vorsorge getroffen. Christian Semler