Angsterfüllte Plackerei unter sengender Sonne

Gan Ngoueng bewarb sich zusammen mit zwei anderen Frauen aus ihrem Dorf als Minenräumerin in Kambodscha  ■ Aus Mohor Jutta Lietsch

Aus dem kleinen Schulhaus am Tempel von Mohor dringen Kinderstimmen. Sie sprechen ihrem Lehrer das Abc nach. Ein paar Meter weiter singt ein Mönch sein Gebet, Zimmerleute hämmern Balken für eine neue Versammlungshalle, Hähne krähen. Zuckerpalmen und Cashewnußbäume bewegen sich leicht im Wind. Plötzlich ein elektrisches Surren: das Alarmgeräusch eines Metalldetektors.

Gleich neben der Schule liegt Gan Ngoueng bäuchlings auf der Erde und schiebt sachte einen flachen Metallstab schräg in den Boden. Zentimeter für Zentimeter treibt sie ihr Werkzeug voran, stochert ein wenig, schabt die Krumen langsam beiseite. Nichts. Doch das Spürgerät hat angeschlagen. Ngoueng gräbt vorsichtig weiter und stößt auf etwas Hartes: Es ist ein rostiger Nagel. Seit Tagen hat sie nichts als ungefährlichen Schrott aus der Erde geholt.

Die 29jährige Kambodschanerin steht auf, schiebt das Visier ihres Helms zurück und nickt einem Kollegen zu, der gut zwanzig Meter entfernt jede ihrer Bewegungen beobachtet hat. Minenräumer arbeiten immer zu zweit. „Wenn es ein Unglück gibt und eine Mine explodiert“, erklärt Gan Ngoueng, „dann muß mein Partner genau sagen können, was zuletzt geschah – wo ich gerade meine Hände hatte, ob ich abgerutscht bin. Daraus müssen wir lernen.“

Gan Ngoueng ist Minenräumerin der britischen Hilfsorganisation „Mines Advisory Group“ (MAG), die seit Mitte Juni auf dem Tempelgelände in der lieblichen Atmosphäre des Dörfchens Mohor in der zentralkambodschanischen Provinz Kampong Thom nach Sprengkörpern sucht. Kambodscha gehört zu den minenverseuchtesten Ländern der Welt: Jeden Monat tötet und verkrüppelt diese tückische Waffe über 200 Menschen im Land. Niemand weiß, wie viele Minen noch auf ihre Opfer lauern. Schätzungen sprechen von zwei bis sechs Millionen.

Unter der brennenden Sonne und in der Monotonie der immer gleichen Bewegungen ist es schwer, nicht die Konzentration zu verlieren. Deshalb laufen zwei Beobachter regelmäßig zwischen den zwölf Minenräumer-Paaren in Mohor hin und her, um jeden Verstoß gegen die Disziplin zu verhindern. Oberstes Gebot ist es, die Sicherheitsregeln und die vorgeschriebene Routine eisern einzuhalten. Gan Ngoueng und ihr Partner wechseln sich genau nach jeder Stunde ab: Dann führt sie den Detektor über den Boden, und er schabt in der Erde.

Ein Kollege von Gan Ngoueng hat vor einigen Monaten Augen und Finger verloren, weil er sich nicht flach genug auf den Bauch legte, mit seinem Metallstab zu steil in den Boden stieß und dabei den Auslöser einer Mine berührte. Insgesamt hat es in fünf Jahren aber nur drei Unfälle unter den MAG-Minenräumern in Kambodscha gegeben. In einem Fall war das Spürgerät defekt, der Hersteller änderte daraufhin die Konstruktion.

„Ich bin besonders vorsichtig“, beruhigt sich Ngoueng, „weil ich so viel Angst habe.“ In der Hitze des späten Vormittags legt sich Ngoueng mit ihrem blauen Helm und der schweren Schutzweste, die sie über die grasgrüne MAG-Uniform gestreift hat, wieder auf die Erde und findet bald ein Stückchen von einer verwitterten Dose. In den vergangenen drei Stunden hat sie nicht mehr als eine Fläche von etwa fünfzig mal sechzig Zentimetern bearbeiten können.

In den vergangenen Wochen aber stieß die Gruppe wenige Meter weiter auf 17 Minen und sechs scharfe Granaten und Mörser. Die meisten stammen noch aus dem geheimen Krieg Ende der sechziger Jahre, als US-Flieger große Teile des Landes bombardierten.

Das Minenfeld am Tempel von Mohor ist Zeugnis des dreißigjährigen kambodschanischen Elends: Nach den Flächenbombardements der Amerikaner kamen 1975 die Roten Khmer. Sie ermordeten viele Mönche und bauten ein Krankenhaus, das zum Ende ihrer Herrschaft 1979 abbrannte. Übrig blieben die Nägel im Boden. Dann marschierten die Vietnamesen ein. Die Truppen der neuen Regierung errichteten ihre Stützpunkte oft auf Tempelgeländen, so auch in Mohor. Zum Schutz gegen die Angriffe der Roten Khmer aus dem Norden, die sich vor allem bei Nacht in die Dörfer schlichen, um den Bewohnern Lebensmittel und junge Rekruten abzupressen oder „Verräter“ zu töten, legten die Soldaten Minenfallen: mit Stolperdrähten verbundene Sprengkörper, die im Buschwerk nicht zu sehen waren.

So müssen die Minenräumer zunächst vorsichtig alle Sträucher und Gräser zurückschneiden. Bislang fanden die MAG-Leute um die Schule herum fast ausschließlich sogenannte Fragmentierungsminen: Wer gegen die Stolperdrähte stößt, aktiviert die Zündung. Die Mine springt knapp einen Meter hoch und schießt mit tödlicher Kraft Kugeln und Metallteile ab. Daneben haben die Soldaten häufig auch „Explosionsminen“ vergraben, die den Opfern Füße und Beine abreißen.

Im MAG-Büro von Kampong Thom liegt ein ganzes Arsenal des Grauens unter Glas, sorgfältig beschriftet: Die gefürchtete chinesische PMN-72, grün eingefärbt und nicht größer als eine kleine Dose Schuhcreme, zerfetzt die Beine. Die russische PMN-2N, von den Bauern wegen ihrer Form „Maiskolben“ genannt und in Mohor häufig gefunden, zerreißt die Eingeweide. Mehr als ein Dutzend verschiedener Typen wurden in Kambodscha gefunden. China, die Sowjetunion, die USA, Vietnam, und die Tschechoslowakei gehörten zu den eifrigsten Minen- und Munitionslieferanten.

Die Menschen in Mohor wußten, daß die Sprengkörper in ihren Feldern lagen. Jeder Strauch, jedes Stück Gras konnte den Tod bringen – oder auch ganz ungefährlich sein. Eltern mahnten ihre Kinder, nur auf den ausgetretenen Trampelpfaden zur Schule zu laufen. Die Vorsicht konnte nicht verhindern, daß in dem 745-Familien- Dorf seit Anfang der achtziger Jahre ein Bauer durch die Minen starb. Zwei andere wurden schwer verletzt. Vierzig Kühe und über zwanzig Schweine wurden von Minen zerrissen – was für die Landleute oft eine wirtschaftliche Katastrophe bedeutete.

Am schlimmsten findet es der Schotte Sam McLeod, der seit Anfang des Jahres als technischer Berater der MAG in Kampong Thom arbeitet, wenn er den Bewohnern einer verminten Region erklären muß, daß es noch Jahre dauern kann, bis Minenräumer zu ihnen kommen. Es gibt nicht genug Geld, neue Gruppen auszubilden und zu beschäftigen: Ein kleines Team mit fünf Minenräumer-Paaren und einem Aufseher kostet im Jahr allein rund 52.000 Dollar. Darunter fallen nur die Gehälter, Ausrüstung und der tägliche Transport zu den Minenfeldern. Welches Gebiet zuerst entmint werden soll, ist oft schwer zu entscheiden: „Wir gehen vorrangig zu Brücken, Tempeln, Schulen oder Brunnen, wo die Menschen am meisten gefährdet sind“, sagt McLeod.

In der Provinz Battambang stellten MAG-Teams die Arbeit für einige Wochen ein, als sie merkten, daß sich hochrangige Militärs geräumtes – und deshalb plötzlich wertvolles – Land unter den Nagel rissen und die dorthin gesiedelten Kleinbauern vertrieben. Nicht immer gelangen die Minenräumer zu ihrem Arbeitsplatz. Anfang der Woche warnten die Bewohner eines Dorfes vor einer Entführerbande, die jeden griff, von dem sie sich Lösegeld erhoffen konnte. Schweren Herzens beschlossen die MAG-Leute, das Gebiet vorerst zu meiden.

Auch Mohor war an diesem Tag nicht zu erreichen: Die Privatarmee des zweiten Ministerpräsidenten, Hun Sen, versperrte den Weg, weil ihr Chef ein paar Stunden später eine Brücke einweihen wollte. McLeod, der nach seiner 12jährigen Militärzeit in der britischen Armee schon Minenfelder in Kuwait und Afghanistan geräumt hat, weiß, was die Bauern tun werden, wenn er sie vertrösten muß: Sie wenden sich an „Laien-Räumer“, ungeschulte ehemalige Soldaten. „Für ein Kilo Reis riskieren die ihr Leben“, sagt McLeod. Und sie verlieren es in vielen Fällen: „Wir wissen nicht, wie viele Opfer es wirklich gibt.“

Fast 3.300 Minenräumer robben heute in Kambodscha täglich durch die Felder. Die größte Organisation ist das „Cambodian Mine Action Centre“ (CMAG), das 1992 mit Hilfe der UNO gegründet wurde. Kleiner sind die britischen Hilfsorganisationen „Halo-Trust“ und MAG, die auch in Ländern wie Afghanistan, Angola oder Georgien arbeiten. Eine von der französischen Regierung finanzierte Gruppe säuberte die berühmte Tempelanlage in Angkor Wat.

MAG entschied sich 1994 zu einer Revolution unter den internationalen Minenräumern: Die Briten stellten auch Frauen und Amputierte ein. Unter ihren 360 Minenräumern sind 53 weiblich. „Wir sind für Chancengleichheit“, sagt Programmdirektor Ian Brown in Phnom Penh. Die Erfahrung gebe ihm recht, fügt er hinzu: Die Behinderten sind ebenso geschickt, sicher und schnell wie die Gesunden.

Als die Bäuerin Nuo Sokha vor zwei Jahren von der Möglichkeit hörte, Minenräumerin zu werden, bewarb sie sich. Sie war 23 und ergriff die einzige Chance, der Armut zu entfliehen: Mit 170 Dollar im Monat verdienen die Minenräumer mehr, als die meisten Kambodschaner sich erträumen können. Lehrer und Polizisten kommen auf knapp 25 Dollar. Ihre Partnerin auf dem Minenfeld, die 27jährige Phon Sophin, ist Witwe mit zwei kleinen Kindern „und einzige Ernährerin in der Familie“. Gemeinsam mit der dritten Frau im Minenräumer-Team, Gan Ngoueng, zogen sie aus ihrer Heimat im Westen Kambodschas nach Kampong Thom.

Ihre Familien „waren gegen diese gefährliche Arbeit“, sagen alle drei. Sind sie außergewöhnlich mutig? „Nein“, wehrt Ngoueng ab. „Frauen haben mehr Angst als Männer. Ich auch.“ Deshalb räumten sie besonders vorsichtig und gründlich. Ihre Arbeit ist für sie kein mit Heldenmythos umwobener Traumjob, sondern Flucht aus der Not, angsterfüllte Plackerei in unerträglicher Hitze. Am liebsten würden sie, sagen die Frauen, im Büro der Organisation arbeiten.

Das geht ihren männlichen Kollegen ebenso: „Reiche Menschen würden diese Arbeit niemals machen“, meint der dreißigjährige Hoy Chea. Er war 1985 aus Kambodscha in ein thailändisches Lager geflohen, weil ihn die Regierung zwingen wollte, Soldat zu werden. Mit Hilfe der UNO kehrte er 1992 zurück, arbeitete als Dolmetscher und half bei der Vorbereitung der ersten freien Wahlen. Dann war er arbeitslos. „Da habe ich mich bei MAG beworben.“ Auch für ihn ist die Furcht immer da. Weil seine Frau in Panik gerät, wenn er vom Minenfeld nicht pünktlich zurückkommt, „muß ich nach der Arbeit immer sofort nach Hause“.

Mindestens dreißig Jahre wird es wohl noch dauern, bis Kambodscha von Landminen befreit ist. Noch legen die Soldaten der Roten Khmer, des ehemaligen ersten Premierministers Prinz Norodom Ranariddh und der Regierung in Phnom Penh täglich neue Minen. Der ehemalige Sicherheitschef des Prinzen, General Serey Kosal, brüstete sich kürzlich damit, daß seine Leute täglich fünfhundert Minen produzierten. Auf rund einem Fünftel Kambodschas lauern wohl noch Minen und gefährliche Munitionsreste.

Auf dem Tempelgelände von Mohor haben Gan Ngoueng und ihre KollegInnen in den vergangenen fünf Monaten 23.281 Quadratmeter gesäubert – von 400.000. Die Bauern wollen später den Mönchen dort ein neues Wohnhaus bauen, die Schule erweitern und Gemüsegärten anlegen. Wenn die Leute von MAG im nächsten Jahr die Arbeit beendet haben, ziehen sie weiter. Eines wissen sie: Ihr Job hat Zukunft.