Seriös auf dem Weg nach oben

■ Gesichter der Großstadt: Die Kreuzberger Sozialstadträtin Ingeborg Junge-Reyer soll Schatzmeisterin der SPD werden und wird als mögliche Sozialsenatorin gehandelt. Geldknappheit deprimiert sie nicht

Sie wirkt, als ob sie den Spruch an der schmucklosen Wand ihres Büros jeden Tag neu beherzigen würde. Dort prangt unübersehbar das Plakat: „Zum Optimismus gibt es keine Alternative“. Und getreu dieser Devise versucht Ingeborg Junge-Reyer auch zu handeln: Wohlüberlegt, ohne überflüssige Worthülsen, aber mit einer gehörigen Portion Optimismus. Dabei hat die langjährige SPD-Sozialstadträtin gerade in ihrem Bezirk wenig zu lachen, denn Kreuzberg ist bekanntlich das Armenhaus der Stadt. Hier sterben die Leute am schnellsten, gibt es überproportional viele SozialhilfeempfängerInnen und Arbeitslose. Geld ist sowieso zuwenig da. Doch wegen der katastrophalen Lage in Lethargie zu verfallen ist nicht ihr Ding: „Das deprimiert mich nicht“, sagt sie schlicht und lächelt milde. Politik sei nicht dazu da, sich defensiv zurückzuziehen.

Dennoch strebt die 51jährige nach acht Jahren Amtszeit nach Höherem. Nachdem sie in Kreuzberg schon in dieser und der vergangenen Legislaturperiode intern als potentielle Bürgermeisterin gehandelt wurde, an einer Aufstellung aber knapp vorbeischrammte, will Ingeborg Junge-Reyer sich jetzt in ihrer Partei auf der Landesebene profilieren. Gute Karten hat sie: Die gebürtige Westfälin ist jetzt für den Posten der SPD-Landesschatzmeisterin nominiert, der nach dem Weggang von Justizsenatorin Lore-Maria Peschel-Gutzeit nach Hamburg vakant geworden ist. Falls sie nächste Woche gewählt wird, ist sie auch Mitglied des geschäftsführenden Landesvorstandes – u.a. neben Fraktionschef Klaus Böger, den linken Wortführern Klaus-Uwe Benneter und Monika Buttgereit und Arbeitssenatorin Christine Bergmann. Einen Gegenkandidaten gibt es bisher nicht.

Und ihre Partei traut der Kommunalpolitikerin offensichtlich noch mehr zu. „Sie ist besser als das Gros der derzeitigen Senatoren und Senatorinnen“, schwärmt der innenpolitische Sprecher Hans- Georg Lorenz. Sie sei durchaus „senatorabel“. Auch in dieser Hinsicht war sie schon einmal auf dem Sprung: Junge-Reyer wurde, als Ingrid Stahmer in der vergangenen Legislaturperiode noch Sozialsenatorin war, als deren mögliche Nachfolgerin gehandelt. Doch Stahmer bekam das Schul- und nicht das Sozialressort, das die CDU übernahm. Junge-Reyer ging leer aus. Beide Politikerinnen gelten in der Partei als Konkurrentinnen.

Doch über Spekulationen und mögliche Pöstchen äußert sich Junge-Reyer nicht. Grundsätzlich. Aus ihrem Mund kommen nur wohlüberlegte und klar formulierte Sätze. Ihre Diktion ist genauso seriös wie ihr Outfit – Bluse, Jackett und Bundfaltenhose in gedeckten Farben. Dabei wohnt Junge-Reyer, die mit einem Richter verheiratet ist, für eine Stadträtin durchaus unkonventionell: Seit 17 Jahren in einer Wohngemeinschaft in Reinickendorf, mit ihrem Mann und einem anderen Pärchen zusammen. In dieser „solidarischen Lebensgemeinschaft“, wie sie es nennt, holt sich die Vielarbeiterin („meist von acht Uhr morgens bis spät in die Nacht“) ihre Power, hier kann sie ausspannen. Kinder hat Junge-Reyer, die sich selbst als „68erin“ bezeichnet, keine. Und für Hobbies keine Zeit. Das einzige, was sie manchmal am Wochenende tut, ist Joggen, „um den Kopf freizukriegen.“

Im Büro aber ist die Verwaltungsfrau, die Diplomkameralistik studiert hat, trotz der raren Freizeit stets auf der Höhe. Einige MitarbeiterInnen ihres Amtes bezeichnen sie sogar als „unangreifbar“ und „aalglatt“. Vielleicht weil sie die Politikfelder, die ihr am Herzen liegen, mit Ausdauer und wenn es sein muß, auch mit Härte, verfolgt. Viele Menschen hätten deshalb Angst vor ihr, heißt es im Bezirksamt. Doch mit ihrer Sturheit hat Ingeborg Junge-Reyer auch Erfolg: So hat sie sich bisher trotz Drohungen des Innensenators erfolgreich geweigert, Vorsprachetermine von Ausländern an die Ausländerbehörde weiterzugeben. Im Sozialhilfebereich zeigt sie sich innovativ und hat für Kreuzberg als eines der ersten Bezirke ein Lohnkostenzuschußprogramm für SozialhilfeempfängerInnen entwickelt. Sowohl 1995 als auch 1996 hat ihr Amt jeweils sechs Millionen Mark gespart, weil immer mehr Obdachlose statt in überteuerten Pensionen in Wohnungen untergebracht wurden.

Und auch die Finanzmisere schreckt sie nicht sonderlich: „Es gibt trotz knapper Gelder noch genügend Möglichkeiten, etwas zu tun“, sagt sie. Ohne mit der Wimper zu zucken. Und mit dem richtigen Maß an Optimismus. Julia Naumann