Die neue Farbenlehre der Sozialdemokraten

■ Am Freitag wählt die SPD ihre Bundestagskandidaten. Mit Methoden der 70er Jahre werden im Kreisverband Reinickendorf Mehrheiten für den Listenplatz von Parteichef Dzembritzki gesichert

Wenn es um Wahlen geht, läßt Reinhard Roß nichts anbrennen. Als der SPD-Parteitag vor einer Woche mit äußerst knapper Mehrheit gegen den Verkauf kompletter Wohnungsbaugesellschaften stimmte, stürzte der wuchtige Kreisvorsitzende von Reinickendorf ans Rednerpult und beantragte eine Wiederholung der Abstimmung. Aber auch die geheime Wahl änderte nichts an dem ihm mißfallenden Ergebnis.

Auch daheim im größten Kreisverband der Berliner SPD sorgt sich der 47jährige Abgeordnete um die richtigen Mehrheiten. Für die Bundestagswahl im September 1998 tritt SPD-Parteichef Detlef Dzembritzki in Reinickendorf als Direktkandidat an. Da der Wahlkreis bei der letzten Wahl an die CDU ging, soll dem farblosen Parteivorsitzenden ein sicherer Listenplatz zum Einzug in den Bundestag verhelfen. Wenn diesen Freitag die SPD-Delegierten ihre Landesliste für den Bundestag wählen, soll Dzembritzki Rückenwind spüren. Mittels einer „Orientierungshilfe“ wie es Reinhard Roß nennt, wurde dafür gesorgt, daß unter den 33 Reinickendorfer Delegierten ein überdurchschnittlich hoher Anteil Dzembritzki- Getreuer ist. Um die Wahl loyaler Delegierter zu gewährleisten, waren diese auf einer der taz vorliegenden Liste rot markiert. „Jede Stimme zählt“, so das Motto des Aufrufs: „Priorität haben die roten Namen. Sind diese Kandidaten gewählt, sollen die blauen Namen und nur diese angekreuzt werden.“ Weiter heißt es: „Nur so stellen wir sicher, daß unser Kandidat eine Mehrheit bekommt!“ Dzembritzki hat unerwartet einen Gegenkandidaten: den aufmüpfigen Juso-Vorsitzenden Matthias Linnekugel. Der 29jährige will dem Parteichef einen Denkzettel verpassen, weil nur eine einzige Kandidatin unter 40 Jahren Aussicht auf einen sicheren Listenplatz hat. Zwar hat Linnekugel bestenfalls Außenseiterchancen, doch löst seine Kandidatur offenbar Nervosität aus.

Bei der farbigen Wahlhilfe scheint es sich um eine Reinickendorfer Spezialität zu handeln. „So etwas habe ich schon seit den 70er Jahren nicht mehr gesehen“, wunderte sich ein langjähriges Parteimitglied. Damals gab es solche Wahlanleitungen bei den Flügelkämpfen zwischen links und rechts. Doch die Empörung der Reinickendorfer Parteilinken ist Heuchelei. Vor drei Jahren, als die Parteilinke mit Thomas Gaudszun den Kreisvorsitzenden stellte, fiel Dzembritzki als Direktkandidat äußerst knapp gegen einen Linken durch. Und auch die „Orientierungshilfe“ der Parteirechten war eine Reaktion auf den Versuch der Linken, mehr Delegierte ihrer Couleur zu wählen, als ihnen nach dem internen Proporz zusteht.

Diesmal soll nichts schiefgehen. Reinhard Roß, ein ehemaliger Linker, der sich jetzt „in der Mitte“ verortet, hat jeden Reinickendorfer Delegierten persönlich gebeten, Dzembritzki zu wählen. „Das hat nichts mit Beeinflussung zu tun.“ Dorothee Winden