Vom Essen und Trinken

Der Verlierer im sozialen Wettkampf  ■ Von Gabriele Goettle

Armut macht erfinderisch, auch diejenigen, die sich ihrer annehmen. Alle Organisationen, die von der Nächstenliebe leben, wie Kirchen, Caritas, Arbeiterwohlfahrt, Rotes Kreuz, Heilsarmee, warten den Armen mit Ausspeisungen auf. Das ändert zwar an der Armut nichts, nährt aber die Bedürftigen ein wenig, und es nährt die gute Stimmung in einer unsolidarischen Gesellschaft. In Berlin gibt es in fast allen Bezirken Suppenküchen, sogar in den südlichen, in denen traditionell der gehobene Mittelstand wohnt. Einige Einrichtungen bieten darüber hinaus ein Bedürftigkeitsfrühstück an oder einen Seniorennachmittag mit Kaffee und Kuchen. Für dieses Netz von Angeboten gibt es keinen Führer. Es gibt fotokopierte Adressenlisten mit einigen Anlaufstellen, Aushänge, Hinweise, sie sind aber nur ein kleiner Behelf und geben keine Auskunft über Umfang und Qualität des Angebotenen. Der Neuarme muß, um es auszukosten, mobil und kontaktfreudig sein. Introvertierte sind im Nachteil, weil gute Tips unter geselligen Essern ausgetauscht werden, unter fröhlichen Tischnachbarn. Erste Adressen werden so gut wie gar nicht weitergegeben, denn viele Esser verderben die Küche.

Eine Kirche in der Nähe des alten Flugplatzes Tempelhof ist solch eine erste Adresse, zu der die zahnlose Mutter uns mitnahm. In den Toiletten gibt es heißes Wasser, Frotteehandtücher und einen wohlgefüllten Seifenspender, was keineswegs der Standard ist. Obdachlose wissen das sehr zu schätzen.

Im Gemeinderaum sitzen an hufeisenförmig zusammengeschobenen Tischen schon einige Esser. Kaum haben wir uns gesetzt, eilen sogleich drei Damen mittleren Alters herbei zur Begrüßung, die zahnlose Mutter wird nach dem Befinden gefragt, eine füllt uns die Teller übervoll mit einem wohlriechenden Champignon-Huhn-Risotto. Sie ist zutiefst enttäuscht, als die zahnlose Mutter bittet, die Hälfte von ihrem Teller wieder runterzunehmen, weil sie, wegen der Magengeschwüre, nicht so viel essen kann. Frischkost aus geriebenen Möhren, Kraut und Apfel und den Nachtisch serviert uns die rotgefärbte der drei Damen, die Pastorin. Sie bezeichnet sich als Unterköchin, zuständig fürs Dessert, einen schlichten Vanillepudding. Alle essen relativ schweigend, was in anderen Suppenküchen nicht der Brauch ist. Ob es nun an dem vorzüglichen Risotto liegt, in dem alle Bestandteile noch ihren Geschmack und ihre Konsistenz haben, oder an der tantenhaften Sonntagsnachmittagsstimmung, die die drei Damen Montag mittag verbreiten, das können wir nicht herausfinden.

Zwei der Gäste kennen wir aus anderen Suppenküchen, einen jungen Proleten und einen älteren Handwerker aus Altenburg. Der junge Prolet führt stets seinen Schäferhundmischling namens Rocky mit sich. Der Hund ist seitlich an der Heizung angebunden und beginnt nach einer Weile ins Schweigen hinein zu fiepen.

Prolet: Bist auch ein Gottesgeschöpf aus Fleisch und Blut...

Mutter: Hat aber keene Seele!

Prolet: (empört) Wer sagt denn so was?!

Mutter: Die Kirche, die Kirche sagt, Tiere haben keene Seele, die können och nich in den Himmel kommen.

Prolet: (unterbricht das Essen) Das habe ich ja noch nie gehört, so einen Quatsch.

Mutter: Frag doch Achim, Achim hat det jesagt, und der musset ja wissen.

Achim, so wissen wir als bereits erfahrene Suppenküchenbesucher, ist der Pfarrer aus der Heilig Kreuz Kirche. Die Pastorin schweigt.

Prolet: (weiteressend) Ach Gott der, der hat doch keine Ahnung von Tieren, der ist doch sogar tierfeindlich eingestellt.

Mutter: Du spinnst doch, Achim und tierfeindlich! Warum läßt der nu die janzen Punks rin mit ihre Hunde, wat? Anderswo ham die doch Hausverbot. Da hörste doch nur immer, Leutchen, macht eure Hunde an die Strippe, damit wir hier nicht drüberfallen, sonst hörste nichts von Achim.

Prolet: Trotzdem, der mag Tiere nicht!

Mutter: Drum läßt er se alle rin.

Prolet: Sonst würde ja keiner kommen und seine verdammt gute Suppe fressen.

Mann: (der bisher geschwiegen hatte) Bestimmt hat ihn mal einer gebissen als Kind.

Prolet: Egal, jedenfalls hat er mich damals Ostersonntag rausgeschmissen aus dem Gottesdienst, weil Rocky ein bißchen gejault hat.

Mutter: Kann ick dir janz jenau sagen warum, weil Ostern wat Besonderet is, die Auferstehung, da ham Tiere nischt zu suchen!

Prolet: Das Lamm ist auch dabei!

Allgemeines Lachen, auch die Pastorin lacht überschwenglich und sagt: Ich habe noch nie einen Hund weggeschickt, wenn einer kam, sogar bei einer Einsegnung war mal ein Hund dabei, oder auch wenn ich an Anja denke, den kleinen Pudel, den wir hier schon einige Male hatten...

Prolet: Hauptsache, er kann sich benehmen.

Pastorin: Problematisch wird's ja nur, wenn der Hund quiekt und bellt!

Prolet: Na da ist dann immer was, was den Hund stört, der Grund...

Mutter: (ihren halbvollen Teller wegschiebend) Mir reicht's.

Pastorin: Schade, ich freue mich immer so, wenn's schmeckt.

Mutter: Schmeckt ja, aber ick kann nich mehr. Wenn's nicht schmecken würde, dann würden wir ja nich kommen!

Pastorin: Bitte?

Mutter: Wenn's nicht schmecken würde, würde keener wiederkommen!

Pastorin: Nun, das stimmt... gibt es Vorschläge, den Speisezettel betreffend?

Prolet: Ich bringe Sonntag neunzig Eier rum, für 'nen Eierpunsch.

Pastorin: Das nun gerade nicht!

Mutter: Besser Pfannkuchen.

Pastorin: (enthusiastisch) Ja, Eierkuchen mit Vanilleeis, das ist gut.

Ein Mann, Ende vierzig, äußerst säuberlich gekleidet, mit frischem Haarschnitt und gestutztem Bart, der bisher schweigend aß, sagt empört: Mir persönlich wär' ein Gulasch lieber... Nee, Pfannkuchen mit Vanilleeis nicht, wir wollen doch keine kalten Lederlappen essen!

Prolet: Dafür bring' ich keine Eier!

Pastorin: (spitz) Dann lege ich die Eier eben selbst.

Allseits bricht schallendes Gelächter aus, das etwas auszuarten droht.

Mutter: (gackert wie ein Huhn, der Prolet kräht dazu wie ein Hahn) Ich krieje mir nich mehr ein, nee! Pastorinneneier! Davon hat man ja noch nie wat jehört... Gack, gagagaaaaack!

Pastorin: (mühsam) Also nun mal im Ernst, wie isses denn nun gedacht?

Prolet: Ja klar, es bleibt dabei, die Eier bring ich mit. Wie viele sollen es denn nun sein?

Pastorin: Na zwei Dutzend maximal, mehr sind nicht nötig.

Prolet: Gut, die bring ich Sonntag rum und zehne zusätzlich, zum Probieren.

Mutter: (genüßlich) Oder zum Schmeißen! Ick weeß wat, wir machen ne Demonstration... Arme Kirchenmäuse... Eierwerfen auf Bürgermeister Diepgen.

Pastorin: Na, na.

Bärtiger: Dann schon lieber Pfannkuchen.

Pastorin: Pfannkuchen also, ganz normale?

Prolet: Ja, auf mich kann man sich verlassen... Außer, ich krieg'

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Fortsetzung

überraschend einen Termin im Krankenhaus, wegen den Augen...

Pastorin: (etwas nervös) Was ist denn mit den Augen?

Prolet: Die Ärzte sagen, Bakterien fressen meine Augen auf, ganz allmählich. Ich seh' nicht mehr richtig, nehme da diese Tropfen mit Antibiotika, aber das nutzt kaum was, die Bakterien oder was, die nagen herum...

Mutter: Ist das ansteckend?

Prolet: Woher soll ich es sonst haben?

Mutter: Iiih, eklig!

Pastorin: Sie können ja Bescheid sagen, wenn's nicht klappt, mit den Eiern.

Prolet: Klar. Mal was anderes, kennt ihr den? Ich hasse Kinder!

Pastorin: (irritiert) Ja warum denn das?

Prolet: Weil sie lügen, sobald sie den Mund aufmachen...

Mutter: (entrüstet) Mein Kleener, der lügt nich!

Prolet: (unbeirrt) Kommt der Mann von der Arbeit nach Hause und die Kinder rufen „Pappi, Pappi!“, schon haben sie gelogen.

Nach einem Moment eisigen Schweigens lacht der Bärtige unmäßig los, krümmt sich vor Erheiterung, einige lachen halbherzig mit, die Pastorin und die beiden Damen wenden sich einem glücklicherweise gerade ankommenden Gast zu.

Mutter: So'n Quatsch hör' ick mir nich an, ick hau ab nach Hause.

Bärtiger: Das ist wirklich so, oft und oft. Ich hatte mal einen Kumpel auf der Stube, der hatte fünf Geschwister und jedes von einem anderen Vater. Warum auch nicht, sage ich, da wird es wenigstens nicht eintönig.

Mutter: Mein Junge hat nur eenen Vater, aber der war Säufer.

Bärtiger: (immer noch sehr erheitert) Genau wie bei mir, mein Vater... (lacht glucksend) wenn er mein Vater war, der Mann meiner Mutter jedenfalls, war schwerer Alkoholiker und starb im Irrenhaus drüben in Westdeutschland. Meine Mutter war auch schwere Alkoholikerin und ist daran eingegangen. Hier in Berlin ist sie gestorben, im Urbankrankenhaus, vollkommen einsam, die hatte sich förmlich bei lebendigem Leibe zersetzt.

Mutter: Eklig! Ick jehe nu aber wirklich.

Auch der Prolet bricht auf, indem er den Tisch umrundet und jedem die Hand auf die Schulter legt. Dann bindet er seinen Hund los und reicht der Pastorin nebst Damen die Hand.

Bärtiger: (nun an uns gewandt, mit gedämpfter und immer noch von Kichern unterbrochener Stimme) Meine Schwester starb mit 29 Jahren an Leberzirrhose, so hat die gesoffen. Ich selber, ich trinke nichts, gar nichts. Dabei hätte ich Gründe über Gründe, so wie ich hier jetzt sitze, ohne Arbeit, ohne Wohnung, ohne alles. Davon macht sich ja kein normaler Mensch eine Vorstellung, wie schnell es abwärts gehen kann (kichert), zack und du bist unten. Und eene, meene Muh, raus bist du (kichert kläglich)! Ich hab' ja bei den Amerikanern gearbeitet und wurde mit dem Abzug der Alliierten damals dann auch arbeitslos. Sie haben mich bis ganz zuletzt behalten, da waren andere schon entlassen. Irgendwann kamen dann auch die letzten dran, die Kasernen wurden alle geräumt in Berlin und damit war's dann eben aus. Seither hab' ich keine Stelle mehr gehabt, und das lag nicht an mir (kichert).

Allmählich dreh ich ja durch, ehrlich gesagt, seh'n Sie (kichert hölzern). Und dabei hätte ich ja was vorzuweisen, an Qualifikationen, so ist das nicht! Ich hab da bei den Amis eine Suchtberatungsstelle mit aufgebaut (kichert), da kenne ich mich ja von Kindesbeinen an aus, in der Materie. Mit Computerprogramm und allem. Wir hatten unser Büro in der Kaserne, in der Finkensteinallee da, in der alten Kadettenanstalt. Es wurden uns Computer gestellt, Schreibmaschinen, Unterlagen, Fachbücher, deutschsprachige. Und wir haben das Programm erarbeitet, nach amerikanischem Vorbild. Da gab's ja massenhaft Suchtkranke. Nicht nur Alkoholiker, aber doch vorwiegend. Mit den erstellten Listen sind wir dann beispielsweise ins Krankenhaus, zu den Leuten, die da wegen Alkoholproblemen lagen oder schon auf Entzug waren. Denen wurde Obst mitgebracht und Säfte, und nebenher haben wir dann unsere Fragen aus der Liste gestellt und die Antworten entsprechend vermerkt. Also das ging ganz offen, an sich.

Manche hatten ja ein bißchen Angst vor Konsequenzen, aber die konnten wir beruhigen, für sie gab's ja dieses Programm. Da war ich auch mal in der Nervenklinik in Spandau einen besuchen, der war vollkommen weg, total weggetreten, der wußte nichts mehr von seinem Job, von Frau und Kindern. Das hat mich dann sehr an meinen Vater erinnert. Meine beiden Eltern, die sich ja totgesoffen haben, die hatten beide das Korsakow- Syndrom. Mein Vater schlimmer als meine Mutter noch. Das äußert sich einfach so, daß der Mensch sich nichts mehr merken kann und will, aber endlos Unsinn redet. Der weiß dann weder mehr den Tag noch das Jahr, noch wo und wer er ist, nur wo der Schnaps steht, das dringt noch ein in den ganzen Nebel. Und das war bei beiden so, bei Vater und bei Mutter, das weiß ich heute. Vater soff in Dortmund, Mutter in Berlin, die hatten sich ja fünfzehn Jahre nicht gesehen. Die soffen unabhängig voneinander, jeder für sich in seiner Stadt, jeder aus anderen Gründen, von denen ich eigentlich gar nichts weiter weiß. Zuerst ist mein Vater gestorben und dann meine Mutter, auch unabhängig voneinander. Meine Mutter hat den Tod nicht zur Kenntnis genommen, die hat nichts zur Kenntnis genommen, bis auf das eine.

Ich bin ja 47 geboren, und Anfang 60 ist meine Mutter nach Berlin abgehauen und hat uns fünf Kinder im Stich gelassen. Wenn ich das damals gewußt hätte, was Alkoholismus ist, dann wäre das nicht passiert. Glaub' ich. Wir waren daran gewöhnt, daß der Vater was trinkt, das war ganz natürlich. Alle Erwachsenen trinken, rauchen, gehen tanzen, fahren Motorrad oder sonstwas, wir dachten, das gehört dazu, und wir dachten, das ist überall so: Mal Regen, mal Schnee, mal Sonne, mal Schläge, mal keine, mal Essen, mal keins: das ist die Kindheit. Wir fünf Kinder sind ja geblieben beim Vater, und nachher dann mehr und mehr bei unseren Großeltern. Die boten uns ein ziemlich normales Leben. Das war vielleicht unser Glück noch, daß die Großeltern da waren. Die Mutter hat hier in Berlin dann gekellnert, auf der Potsdamer Straße. Das ist ja ein ganz schlechtes Milieu, mit Prostitution, Zuhälterei und Spielhöllen, aber sie hat sich da rausretten können, sie hat einen Mann kennengelernt, der gerade frisch Witwer geworden war, die Frau ist ihm durch Unfall, so glaub' ich, weggestorben und er hatte deshalb eine ziemlich hohe Versicherungssumme ausgezahlt gekriegt. Und mit dem Mann ist sie dann zusammengezogen nach Kreuzberg, und von dem Geld haben sie in der Nähe vom Kottbusser Tor eine Kneipe aufgemacht, so ne ganz normale Berliner Kneipe. Da hat dann meine Mutter den ganzen Tag bis spät abends drin gestanden hinterm Tresen und hat serviert. Denn irgendwas war mit dem Mann, der war wohl etwas krank, jedenfalls ist der irgendwann gestorben, und meine Mutter hat die Kneipe alleine geschmissen.

In der Zeit, davon bin ich fest überzeugt, ging's dann erst richtig abwärts mit ihr, da hat sie wirklich angefangen zu saufen, das vorher, das war, glaub' ich, kein richtiger Alkoholismus, da hatte sie mal ab und zu einen Rausch, vielleicht, aber den kriegt ja jeder, der trinkt, nicht? Aber dann hat sie ganz systematisch, ganz regelmäßig, wohl mit den Gästen... 'ne Molle und 'nen Korn... so heißt das wohl in Berlin... und das den ganzen Tag, bis spät in die Nacht, das hält kein Organismus aus. Ich hatte sie damals mal besucht, nachdem ich nach Berlin gekommen war, das war, als ich schon bei den Amerikanern angefangen hatte, und das war ganz furchtbar, dieser Besuch. Ich hatte sie über zehn Jahre nicht gesehen, und das Wiedersehen, das hatte ich mir ja immer vorgestellt, daß sie mich in die Arme nimmt, sich freut, so ähnlich, aber das war dann ganz kühl und verlegen, auf beiden Seiten. Und ich dachte noch bei mir, sie spricht so komisch, sie schaut so komisch aus, so gleichgültig, kann man fast sagen und überhaupt.

Ich war dann endgültig enttäuscht von meiner Mutter und ein ganzes Jahr habe ich sie nicht mehr gesehen, wir waren in der gleichen Stadt, und ich hatte keinerlei Kontakt zu ihr, das hätte ich mir vorher gar nicht vorstellen können. Nach einem Jahr kriegte ich plötzlich eine Benachrichtigung aus dem Krankenhaus, irgendwie muß sie meine Dienstanschrift da angegeben haben, oder man hat was bei ihr gefunden, ein Adreßbuch oder so, jedenfalls kam da ein Anruf, ich soll sofort ins Krankenhaus kommen, meine Mutter liegt im Sterben. Ich wurde vom Wachdienst ausgelöst, und sie haben mich sogar im Jeep hingefahren zum Rudolf-Virchow-Krankenhaus. Da lag sie und schwebte zwischen Leben und Tod, eine Woche lang lag sie im Koma. Ich war vollkommen fertig, ich steh' da am Bett, alles wachsbleich wie schon gestorben, die ganze Stimmung auf der Intensivstation, ich steh' da, halte die Hand mal so, mal so und schau mal hin, mal nicht, das hält man ja kaum aus, daß man seine Mutter nicht mehr erkennt.

Nach einer Woche hat man mich benachrichtigt, da sagte die Ärztin am Telefon zu mir: „Stellen Sie sich vor, Ihre Mutter sitzt im Bett und ißt schon wieder, Sie können kommen und sie besuchen.“ Das war natürlich auch ein Schock. Ich weiß noch, ich hatte Dienst und bin nach Feierabend hingefahren, denn nun war's ja nicht eilig. Sie war in einem anderen Zimmer und lag hoch aufgerichtet im Bett, war wach und hat mich gleich erkannt. Als sie mich sah, da strahlte sie richtiggehend und sie sagte: „Junge, gut, daß du kommst, geh doch mal runter in die Kneipe und hol mir ganz schnell ne Flasche Osborne hoch, seit Tagen schon habe ich so einen Durst und nichts zum Trinken!“ Da wurde mir klar, irgendwas stimmt hier nicht, aber ich hab' das dem Koma zugeschrieben, ich dachte mir, bestimmt bleibt da im ersten Moment nach dem Aufwachen so eine Verwirrung zurück, die dann weggeht, sie denkt eben, sie ist bei sich zu Hause, das wird sich geben.

Damals hatte ich noch keine weitere Erfahrung mit dem Alkoholismus, und so dachte ich einfach nur, das ist ein gutes Zeichen, daß die Lebensgeister zurückkommen, sie wird schon wieder gesund. Die Ärztin hat mich dann am nächsten Tag darüber aufgeklärt, daß meine Mutter das Korsakow-Syndrom hat, was ein Ergebnis ihres Alkoholmißbrauchs ist und daß eben davon die Gedächtnisausfälle und all die Persönlichkeitsveränderungen kommen. Die Ärztin, die ja nicht wissen konnte, wie ich zu meiner Mutter stehe, sagte zu mir: „Keinen Tropfen Alkohol mehr! Machen Sie das Ihrer Mutter bitte klar, sie muß unbedingt eine Entziehungskur machen, am besten gleich im Anschluß an die Entlassung hier, sonst ist beim nächsten Zusammenbruch nichts mehr zu retten.“ Aber meine Mutter wollte nicht, sie wurde richtiggehend ärgerlich, hat das erst weit von sich gewiesen, daß sie Alkoholikerin ist, dann, als ihr das zuviel wurde, hat sie einfach gesagt, das sei ihre Sache, ihr Leben und man soll sich gefälligst um seinen eigenen Kram kümmern, fertig. Sie hat sich dann schnell erholt, wurde entlassen, ging in ihre Kneipe zurück und soff weiter.

Einmal war ich noch dort, in ihrer Kneipe. Ich kam rein, da saß sie da und war blau. Sie war überhaupt nicht zugänglich, ich hab alles versucht. Wir bekamen Streit, und sie hat mich richtiggehend rausgeworfen, mit bösen Worten. Und dann bin ich nach Jahren doch wieder mal hingegangen zu der Kneipe, weil ich zufällig in der Gegend war. Ich ging rein, da war ein Mann hinterm Tresen, der Wirt. Ich fragte nach meiner Mutter, und der sagte zu mir: „Nee, kenn' ich nich, hab' ich nie gehört den Namen, die soll hier Wirtin gewesen sein?“ Die Kneipe hatte vor ihm ein anderer gehabt, der sie wohl von meiner Mutter übernommen hatte, der hat sie noch gekannt. Der Wirt fragte laut in die Runde – es war voll und Wochenende –, ob jemand von den Anwesenden meine Mutter vielleicht noch gekannt hat, das waren ja alles Stammgäste. Da meldete sich so ne alte Frau, die saß an der Theke, seitlich, war schon etwas angetrunken und sagte: „Ach die, ja, die kannte ich noch, die hat sich totgesoffen.“ Sie erzählte mir, daß sich meine Mutter, als sie nicht mehr richtig arbeiten konnte, in ihre Wohnung zurückgezogen und sich dort richtiggehend zu Tode gesoffen hat. Vollkommen einsam. Mit neunundfünfzig. Da waren am Ende gar keine Organe mehr drin in meiner Mutter, da war nur noch Matsch, sagte der Arzt, der mir später im Krankenhaus den Obduktionsbericht erklärt hat.“