Illegal wird man gemacht

■ Menschen ohne rechtlichen Aufenthaltsstatus - weltweites Problem ohne Aussicht auf Lösung. Eine Tagung in Berlin

Vorn auf dem Podium hebt Kriminaloberrat Holger Bernsee warnend die Stimme: „volkswirtschaftlicher Gesamtschaden in dreistelliger Millionenhöhe“, „ein Hauch von Mafia“. Sein Vorredner hatte von „gesellschaftlicher Verantwortung“ gesprochen und von „Entwurzelten, die ein Anrecht auf Hilfe haben“. Beide reden über dieselbe Sache – nur aus völlig verschiedenen Blickrichtungen. Die einen sehen Täter, die anderen Opfer. Die Referenten werden nie auf einen Nenner kommen, aber sie sitzen immerhin an einem Tisch, um darüber zu streiten. Das ist neu.

Die Evangelische Akademie Berlin-Brandenburg hatte Ende letzter Woche dazu eingeladen. Drei Tage lang diskutierten Flüchtlingsberater und Kirchenvertreter, Soziologen und Juristen aus mehreren europäischen Ländern, Frauen aus Prostituiertenprojekten und Polizeiverantwortliche über ein Problem, das man in Deutschland bislang vor allem durch Tabuisierung aus der Welt zu schaffen hofft. Es ging um Menschen, die nicht existent sein dürfen, die es heute aber fast in jedem Land gibt. Menschen, für die man nicht einmal eine richtige Sprachregelung findet und deren Zahl niemand kennt. Weltweit, so schätzt die UNO, leben zirka 30 Millionen Menschen ohne einen rechtlichen Aufenthaltsstatus. Sie heißen „Menschen ohne Papiere“, „Irreguläre“, „Illegalisierte“, „Heimliche“ oder – so der kriminalisierende Terminus in Deutschland – „Illegale“. 4,5 Millionen sind es allein in den USA, 800.000 in Frankreich.

Für die Bundesrepublik gibt es – Ausdruck der Problemverdrängung – nicht einmal offizielle Schätzzahlen. Berlins Ausländerbeauftragte spricht von 100.000 Illegalen allein in der Hauptstadt; das Bundesinnenministerium mißt das Problem an der Zahl der vom Bundesgrenzschutz Ertappten und Zurückgewiesenen: 27.000 Ausländer waren es 1996. Eine Zahl – lächerlich falsch und am Thema vorbei. „Das Problem“, so konstatierte Norbert Cyrus, Wissenschaftler an der Universität Frankfurt (Oder), „entsteht nicht durch unkontrollierte Einreise an den Grenzen, sondern vor allem durch die Illegalisierung im Binnenland.“

„Kein Mensch ist illegal“, lautete das Motto der Tagung, die These dahinter: Illegal wird man gemacht. Sicher, es gibt sie, die Menschen die unter lebensbedrohlichen Bedingungen und für horrende Summen über die Grenzen geschmuggelt werden, die ihre Schulden bei den Schleppern durch Drogenhandel abarbeiten, die mit gefälschten Visa die Grenze passieren und unter falscher Identität Sozialhilfe beziehen. Aber die meisten Illegalen, darin waren sich die Teilnehmer der Berliner Tagung weitgehend einig, sind Ausländer, die nach jahrelangem legalen Aufenthalt in Deutschland durch Gesetze und Vorschriften ins klandestine Niemandsland gedrängt wurden: Bürgerkriegsflüchtlinge aus Ex-Jugoslawien, die keine Duldung mehr bekommen; türkische Großmütter, die während eines Verwandtenbesuchs erkranken und die Aufenthaltsfrist überziehen; thailändische Frauen, die von ihren deutschen Ehemännern wegliefen, als die sich als Zuhälter erwiesen.

Ihre Rechtlosigkeit zwingt sie zu extremer Rechtstreue. Wer klandestin lebt, kann sich kein Schwarzfahren und keinen Streit mit dem Nachbarn leisten. Rechtlosigkeit macht aber auch ausbeutbar und erpreßbar. Wer statuslos ist, kann sich gegen unzumutbare Arbeitsbedingungen, vorenthaltenen Lohn oder auch gegen erzwungene Komplizenschaft bei krummen Geschäften kaum wehren.

Wie in kaum einem anderen Land gelten die illegalen Einwanderer in Deutschland als Synonym für Kriminalität. In ihrer restriktiven Abwehr jedoch sind sich alle europäischen Länder einig. Internationale Konferenzen und Abkommen haben längst einheitliche europäische Standards bei der Grenzsicherung, polizeilichen Erfassung und Rückschiebung von Illegalen geschaffen. Die Bundesrepublik stehe in ihrem vor allem polizeitaktischen Vorgehen keineswegs allein da, urteilte Klaus Sieveking, Professor für Europäische Rechtspolitik in Bremen, „nur hat sie ihre Gesetze auf das restriktive Niveau harmonisiert, das sie den anderen europäischen Ländern zuvor diktiert hat“.

Im Gegensatz zu anderen EU- Mitgliedstaaten ist Deutschland aber weit davon entfernt, die Existenz von einigen hunderttausend Menschen ohne Status als ein Faktum zu akzeptieren. Ähnlich wie die USA haben Italien, Spanien, Portugal und jetzt auch Frankreich mit einer Art Amnestie einen Teil der Statuslosen legalisiert. Unumstritten sind diese Legalisierungsaktionen nicht – weil sie neue illegale Einwanderung provozieren und immer nur für eng definierte Gruppen gelten.

Ein weltweites, immer drängender werdendes Problem, für das nicht ein Hauch von Lösung in Sicht ist, weder durch perfektere Grenzkontrollen noch durch Einwanderungsgesetze mit festen Zahlenkontingenten. „Es wird“, resümierte ein Referent aus Tschechien fatalistisch, „in den nächsten Jahren einfach so viel passieren, ganz egal, was wir tun“. Vera Gaserow