Rechtecke statt Visionen

■ Vertreter europäischer Städte im Erfahrungsaustausch über neue Verkehrskonzepte

Achtung Fachtagung. Jean-Marie Bemtgen, Abgesandter der GD XVII Energie der EU-Kommission, erhebt sich, gurgelt gutural, kontrolliert den Sakkositz, lustwandelt zur Schreibtafel. Ein wichtiger Moment im Leben eines Referenten. Jetzt darf er malen. Es wird ein Rechteck. Und es funktioniert: alle vier Winkel im Lot. Geübt? „Wir haben unser Gesellschaftssystem“.ö Punkt! Gedankenpause! „Das funktioniert.“Weil es aber sehr komplex funktioniert, wird auch das Gemälde wild und verschlungen. Es bekommt zwei Indianerpfeile. „Input und Output.“Und da es eine Tagung zu alternativen Verkehrsmodellen für die Stadt ist, auf der Bemtgen sich und seine Krawatte produzieren darf, handelt es sich um Energieeinspeisung in die funktionierende Gesellschaft und Abgasemission aus der funktionierenden Gesellschaft. Früher, so entdeckte der GD XVII-Mann, dachten die Menschen, die Abgase müßten reduziert werden. Oder sie dachten, die Energieaufwendungen müßten reduziert werden. Heute dagegen weiß man, daß Sowohl-als-auch. Komplexes Denken eben.

Ein netter Abgesandter einer städtischen Institution, einer von circa 50 lernwilligen Zuhörern, denkt etwas anderes: „Das wahre Problem ist, daß manche Leute heute immer noch in so allgemeinen Phrasen leben. In den 70er Jahren war das wohl unumgänglich, heute müßten wir weiter sein. Das ist meine Privatmeinung, nicht zitierfähig.“Dann hält er ein Nickerchen.

Die meisten Tagungsgäste sind Vertreter diverser Stadtverwaltungen, Verkehrsbetriebe oder Car Sharing Vereine und angereist, um von anderen Städten zu lernen, Kontakte mit den stets mysteriösen EU-Gremien zu knüpfen und deren Fördermodalitäten zwecks Plünderung auszubaldowern. Paul Hodson, GD VII Verkehr, entzaubert: „Wir haben kein Geld. Wir haben kein Programm um öffentlichen Nahverkehr zu fördern.“Dafür ist es allererstes Anliegen, „die Forschung zu unterstützen.“Und mit welchen Ergebnissen. Mit klerikalem Pathos hinterfragt er Irrglauben. „Was will der Kunde eigentlich? Es ist doch gar nicht die Energie an sich, der Strom aus der Steckdose! Was er wirklich will, ist die Dienstleistung, kochen können, bügeln, die Bohrmaschine anwerfen. Er w-i-l-l die Kinder aus der Schule abholen.“Ja und? W-i-l-l er nicht beantworten. Dafür fällt um 12 Uhr 40 nach halbstündiger Aufwärmphase der Satz: „Es kommt darauf an, Verkehr zu vermeiden!“Noch weiter sind wir um 12 Uhr 45: „Das Bewußtsein dafür zu stärken, das ist wichtig. Zum Beispiel auch, wenn es um das Klima geht.“Unser netter Anonymus lächelt ein wenig verzweifelt. Hätte er doch weitergeschlafen.

Einen echten, brutalen Eindruck vom verwaschenen, ahnungslosen, unkonkreten Diskursstil, der uns aus Brüssel droht, gönnt aber erst Henning Arp. GD XI Umweltschutz. „Solche Leute steigen dort auf. Glauben Sie mir das“, meint unser netter Herr belustigt. „Der Verkehr ist ein zentrales Problem für die Städte“, sagte Arp.

Zwischen dem „neuen Zielbereich 2“, „Kommission zur Stadtentwicklung“, „Sachverständigengruppe zur städtischen Umstrukturierung“und der „angestoßenen Debatte zur besseren Zusammenarbeit der Aktionen“konnte keine einzige konkrete Überlegung überleben. Aber um Gefahren und Chancen moderner Verkehrsentwicklung aufzuzeigen, waren schließlich Herren aus Athen und Edinburgh angereist. Viel Flüchtigkeit, ein paar altbekannte Visionen von autofreien Wohngebieten: Solange Sprache zu einer Handlungsvermeidungsstrategie verkommt, bedeuten solche halbgaren Tagungen nur überflüssiges Verkehrsaufkommen. Frustrierend! bk