„Oratorium“mit Freiheitsgraden

■ In seinem „Epos von Seyh Bedreddin“gelingt Can Tufan ein ganz großer Wurf

Überregionale Uraufführungsberichte hatten es im Mai dieses Jahres schon weitergetragen: Mit der Komposition und Aufführung des „Epos von Seyh Bedreddin“von Can Tufan ist dem bremischen Operntenor ein Wurf gelungen, der über alltägliche multikulturell-musikalische Tätigkeiten weit hinausgeht, aber ohne diese trotzdem nicht zustande gekommen wäre. Der Bremer Solidaritätschor, in dem sich griechische, türkische, zypriotische und bremische SängerInnen engagieren, hat für dieses Projekt über zwei Jahre geprobt und das Werk nun zum zweiten Mal im ausverkauften Schlachthof aufgeführt. Um was geht es?

Der türkische Poet Nazim Hikmet hat 1936 im Gefängnis das Epos geschrieben: In freier Prosa, rhythmischen Versen, aber auch Reflexionen über die eigene Situation montiert er Texte und das Leben des anatolischen Philosophen Seyh Bedreddin, der im 14. Jahrhundert einen anatolischen Volksaufstand schildert. Sein Ziel war der Kampf um die Gleichheit aller, Gütergemeinschaft, Demokratie. Mit seiner scharfen Anklage gegen die Korruption von Macht und Religion nimmt Bedreddin eine geradezu aufklärerische Position ein: „Wir werden die Regeln der Nationen und Konfessionen zerschlagen“. Es wäre nicht die geringste Leistung Can Tufans mit seinem abendfüllenden Werk, in einer Zeit der Zunahme lebensbedrohender Fundamentalismen, nachhaltig an Bedreddin, aber auch an Hikmet zu erinnern.

Tufan hat heute zwei Arbeitsleben: die Tenorstelle im Bremer Opernchor und seine künstlerische soziokulturelle Arbeit. Und aus dem deutschen und zypriotischen Leben und Klima speist sich auch der absolut eigene Stil der „musikalischen Erzählung“, wie das Epos im Untertitel heißt. Mit dem begleitenden persischen Zupfinstrument Santur wird die Geschichte – von Horst Breiter – erzählt und dann unterbrochen durch chorische und solistische Gesangsstücke, letztere ergreifend gesungen von Wiebke Rendigs und Can Tufan. Dabei scheint Tufan völlig unbefangen mit seinem musikalischen Material umzugehen: Weder verfällt er einem (Schein-) Anspruch von wie auch immer geartetem Avantgardismus noch bildet er die Volksmusikelemente seiner Heimat einfach nach. Er benutzt auf der Grundlage eines regelrechten „Oratoriums“orientalische Tonarten und die ungeraden Metren seiner Heimat, umgesetzt mit immer wieder pfiffigen kontrapunktischen Abläufen. Vielleicht kann man den ästhetischen Ansatz seiner bunten und mitreißenden Musik am ehesten mit der von Mikis Theodorakis vergleichen, den Tufan als Vorbild empfindet. Bemerkenswert ist vor allem, daß aus diesen vielen Komponenten mit einem europäischen Orchester – Geigen, Celli, Kontrabaß, Flöte, Oboe, Fagott, Klarinette – eine eigenständige Synthese entstanden ist, die nur im zweiten Teil Längen hat: da wird zu häufig der gelesene Text von der Vertonung wiederholt. Ute Schalz-Laurenze