Aufklärung im Hinterzimmer

■ In einer Kneipe in Prenzlauer Berg trifft sich die selbsternannte Vorhut einer neuen Streitkultur. Im "Sonntagsausschuß" kann selbst über banalste Thesen in gepflegtem Rahmen debattiert werden

„Die Politik schafft sich die Probleme und tritt dann an, um die selbstgeschaffenen Probleme aus dem Weg zu räumen“, konstatiert der sichtlich erregte junge Mann. „Warum dürfen Beamte bestimmen, wie Karamelbonbons gemacht werden?“ wirft sein Gegenüber im feinen Tuch fragend dazwischen. Die Stimmung ist aufgeheizt, hier im Salon des Cafés „Ribbeck“ in Prenzlauer Berg. Die Argumente fliegen durch den Raum, die Gestik der Anwesenden spricht Bände.

„Sonntagsausschuß“ nennt sich diese Versammlung, und sie ist angetreten, die demokratische Streitkultur zu retten, den philosophischen Diskurs wieder zurückzutragen in die Cafés und Kneipen, in die Wohnzimmer und letztlich in die Köpfe der Menschen.

„Uns macht Diskutieren Spaß“, erklärt Alexander Roesler, Doktor der Philosophie in spe und einer der Väter des Zirkels. Am Vorbild der Pariser Philosophen-Cafés und des britischen Unterhauses haben er und seine Gesinnungsgenossen sich orientiert, freilich ohne die „Ehrenschwere“ der nichtssagenden akademisch-philosophischen Debatte zum zwingenden Ton zu machen. „Wir müssen jetzt nicht über den Freiheitsbegriff bei Kant diskutieren“, sagt Roesler. „Man darf nicht das Gefühl haben, eine Prüfung zu absolvieren.“ So soll fortan an jedem dritten Sonntag im Monat der Spaß an der Sache im Vordergrund stehen, „das Spielerische“, wie Roesler betont.

An diesem Sonntag leidet die Streitkultur indes noch mangels Masse. Nur eine Handvoll „Diskutanten“, wie es im einschlägigen Jargon heißt, hat sich versammelt, um den mehr oder weniger wichtigen Fragen dieser Welt auf den Grund zu gehen. Irgendwie hat die Runde den konspirativen Charakter einer revolutionären Zelle im Meer der Ahnungslosen.

Aber auch der diskrete Charme der Boheme, der hier durch den Salon schwebt, kommt nicht ohne Regeln aus. Den Rahmen der Diskussion bestimmt „Das Ritual“, ein kleines Büchlein, das, wie Alexander Roesler versichert, vollkommen „sinnfrei“ ist. Es soll, verfaßt vom nicht ganz real existierenden Manuel K. Antim (eine zarte Anspielung auf Immanuel Kant), die Basis für die gepflegte Diskussion schaffen, sozusagen den Ausgang des Diskutanten aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit erleichtern.

Die Regeln sind einfach: Der Vorsitzende am Katheder läutet die Glocke zur ersten Runde. Wer will, kann nun sein Thema vorschlagen und hoffen, daß es ausgewählt wird. Dann darf er auch die Zeche des Nachmittags auf die anderen abwälzen. Jede These ist diskussionswürdig, mag sie noch so abstrus sein. „Ostler sind nicht sexy!“ geht dennoch im ersten Wahlgang unter, in neunzig Sekunden kann der vorschlagende Diskutant sein Thema nicht überzeugend genug anpreisen.

Dann schon eher die Frage, ob man Politikverdrossenheit durch ein basisdemokratisches lokales System lösen kann. Das ist genügend Stoff für die nächsten zwei Stunden, da können die Meinungen so richtig aufeinanderprallen. Sobald die Diskutanten sich für die Pro- oder die Contra-Seite entschieden haben, sind der argumentativen Freiheit keine Grenzen gesetzt. Wer sich überzeugt wähnt, kann sogar während der laufenden Debatte die Fronten wechseln.

Am Ende sind sich alle irgendwie einig, daß man das Problem erkannt hat – halt nur auf unterschiedlichem Wege. „Ich erwarte nicht, daß die reine Vernunft von hier aus ihren Siegeszug durch die Stadtteile antritt“, resümiert dann auch Alexander Roesler. Doch darüber reden wollen die Philosophen auf jeden Fall: Denn „die Diskussionskultur liegt darnieder – ein unerträglicher Zustand“. Und schließlich sind Philosophen nicht nur dazu da, die Welt verschieden zu interpretieren. Es kommt auch darauf an, sie zu verändern. Matthias Stausberg

Nächster Sonntagsausschuß: 21. Dezember, 14.30 Uhr, „Zum Ribbeck“, Ecke Milastraße/Cantianstraße