Wo der Wahn von der Bühne genommen wird

■ Das Drama der Kulturpolitik, inszeniert von Micha Brumlik in einem unterhaltsamen Buch

Micha Brumlik, seines Zeichens Mitglied der Frankfurter Stadtverordnetenversammlung und Erziehungswissenschaftler, legt gegenwärtig ein Buch vor, das, obwohl als „kultursoziologisches Essay“ eingeführt, darüber hinaus so allerhand kann beziehungsweise können will. Nur eines kann es nicht – die Frage beantworten, die auf seinem Umschlag steht: „Um welchen Preis läßt sich die kulturelle Verödung dieser Gesellschaft verhindern?“

Was es aber sehr gut und kurzweilig kann, ist, die aktuellsten Daten, Fakten und Hintergründe zu der derzeitigen bundesrepublikanischen Kulturkrise in erzählender Form aufzubereiten. Die vielbeschworene Misere des für ihn bis zum Fall der Mauer bestehenden Kulturstaates zeigt Brumlik verspielt anhand der Großstädte Frankfurt, Berlin und Stuttgart exemplarisch auf.

Auch das vorangehende Kapitel, das die kulturgeschichtliche Vorarbeit für diese Bestandsaufnahme leistet, ist unterhaltsam und aufschlußreich. Es gibt Einblick in die verschiedenen Finanzierungsformen der Bühnenkünste von der Antike bis in die Neuzeit. Alle Konzepte, so lernen wir, mußten hart um ihren Erhalt kämpfen, um dann einem anderen, zeitgemäßeren zu weichen. Laut Micha Brumlik nicht zuletzt wegen einer fundamentalen Diskrepanz zwischen Kultur, Kommerz und Politik. Er bezweifelt, daß „die strukturelle Kopplung des Systems Kunst mit dem System Politik in der Kulturpolitik gelungen“ ist. Um zu dem Fazit zu gelangen, daß die Bühnenkünste „früher oder später aus dem ständigen Kulturangebot verschwinden werden“, läßt er sich zu zahlreichen, sehr breit gefächerten Untersuchungen hinreißen, die ihn nicht selten in Widersprüche verwickeln. Bei diesen Betrachtungen mischen sich ausführliche Detailbeschreibungen mit nur für Insider verständlichen Anspielungen. Trockene, sorgfältig recherchierte Bilanzen wechseln mit Tratsch aus der dem Autor augenscheinlich gut bekannten Szene.

Nicht nur kulturpolitisch liegt die Bühne in einer Agonie, auch inhaltlich und inszenatorisch tun sich keine Perspektiven mehr auf. Zumal der Zuschauer das Theater nur noch als gesellschaftlichen Anlaß sieht und inhaltliche Diskussionen seit den 68ern verstummt sind. Für Brumlik stellen die Dramen, die sich unter den Akteuren der Kulturpolitik abspielen, die schönsten Stücke dar, denn: „Dort, wo die Leidenschaft, der Wahn von der Bühne genommen wird, taucht er anderswo wieder auf.“ Und so versucht Brumlik auch seine Kapitel als Einzeltragödien zu gliedern und spielt mit seinen vorzüglichen Kenntnissen der einzelnen Bühnenwerke. Doch spätestens hier verliert er den Blick für das Wesentliche. Wenn man umgehend eine Interpretation von Mozarts „Figaro“ versucht, nur um den erbost gegen das Austauschen eines Gartens mit einem Kohlenkeller wetternden Reich-Ranicki vorzuführen, verliert man an Würde. Brumlik hat nicht ganz Unrecht mit der Feststellung, daß auf diese Weise Geistesaristokraten wie Reich-Ranicki zeigen, „wie eine unangemessene ästhetische Theorie dazu dienen kann, massive kulturpolitische Eingriffe nicht nur zu bemänteln, sondern sogar zu rechtfertigen“. Widersprüchlich ist in diesem Zusammenhang nur, daß er Zeitungskritikern an anderer Stelle bedeutend mehr Rechte zugesteht: „[...] dem Urteil der spezialisierten Kritik in der Viefalt ihrer Stimmen ist in der Sache mindestens ebenso zu trauen wie dem Urteil von Verfassungsrichtern oder Bundesbankpräsidenten [...]. Sofern man bereit ist, auf die Stimme der ausdifferenzierten und spezialisierten Kritik zu hören, ist es durchaus zu beurteilen, ob ,Qualität‘ vorliegt oder nicht.“ Der Autor sollte es vielleicht bei seiner eigenen Erkenntnis belassen, daß Kunst vor allem Geschmackssache sei.

Kunst und Kultur, so stellt Brumlik in einem soziologischen, etwas oberflächlich geratenen Abriß dar, sind durch ihre verschiedenen Funktionen für alle sozialen Schichten nicht ausschließlich von subjektiver Wichtigkeit. Deutlich wird auch entlang seiner oft schwer nachvollziehbaren Argumentation, daß in einer Demokratie die Gesellschaft dafür einen hohen Preis zahlen muß. Lösungsvorschläge oder einen Weg aus der Kulturkrise erwartet der Leser jedoch letztendlich vergebens. Doris Heidelmeyer

Micha Brumlik: „Der Vorhang fällt – Kultur in Zeiten leerer Kassen“. Aufbau Taschenbuch Verlag Berlin 1997, hrsg. v. Wilhelm von Sternburg, 120 Seiten, 12 DM