Armut und Reichtum im neuen Deutschland

Die Armut ist wissenschaftlich gut durchleuchtet, aber der Reichtum gedeiht im dunkeln, deshalb sind Daten nur schwer greifbar. Dafür sorgt auch Vater Staat. Zwei Neuerscheinungen, die versuchen, die verborgene Szenerie aufzuhellen, rezensiert  ■ von Werner Rügemer

Über Armut und Arbeitslosigkeit wissen wir einiges, aber der konkrete Reichtum ist nach wie vor ein Tabu. Die Reichen in Deutschland haben es, so Dorothee Beck und Hartmut Meine, bis auf wenige Ausnahmen geschafft, zurückgezogen zu leben und anonym zu verdienen. Beck/Meine stellen eine Hitliste der 50 reichsten deutschen Familien auf. Deren Vermögen schätzen sie auf zwischen zwei Milliarden und zwanzig Milliarden Mark. Namen wie Quandt, Flick, Kirch und Schickedanz kennt man, aber schon der „deutsche Bill Gates“, Dietmar Hopp, Vorstandschef des milliardenschweren Softwareunternehmens SAP, ist dem Publikum unbekannt. Ähnlich ist es mit Günter Herz, obwohl die Produkte aus seinen Firmen wie Nivea, Hansaplast, Labello und Tesafilm sowie die Kaffeemarken Eduscho und Tchibo den meisten Deutschen vertraut sein dürften. Nach den Milliarden beginnt die millionenfache Anonymität der gewöhnlichen Millionäre.

Unbekanntes Gebiet sind auch die Einkünft der Topmanager. In den Geschäftsberichten der Aktiengesellschaften sind zwar die Gehälter der Vorstandsmitglieder ausgewiesen – sie liegen zwischen einer halben Million und fünf Millionen Mark pro Jahr. Da fehlt aber einiges: Aktienpakete zu Vorzugspreisen, Abfindungen, Reisepauschalen, private Nutzung von Dienstwagen und -wohnungen. Üblich sind Pensionen von 300.000 Mark bereits nach fünf Jahren. Gut versteckt sind weitere Teile dieser „beamtenähnlichen Alimentierung“, zum Beispiel Gehaltsfortzahlung und Tantiemen im Krankheitsfall. Viele Manager sitzen in mehreren Aufsichtsräten: Tantiemen ab 50.000 Mark pro Jahr kommen oft dazu (bei Hilmar Kopper sind es 800.000). Beck/Meine haben Zeitschriften wie Manager- Magazin und Capital ausgewertet, aber genaue Angaben über die wachsenden Besitzstände fehlen.

Da hilft auch der Staat nicht. Das Bundesamt für Statistik führt alle fünf Jahre bei 50.000 Haushalten die „Einkommens- und Verbrauchsstichprobe“ durch. Die Teilnahme ist freiwillig. Wer ein Einkommen über 35.000 Mark im Monat hat, wird nicht befragt. Das ist seit den sechziger Jahren vom Gesetzgeber so gewollt. „Die politischen und wirtschaftlichen Eliten in Deutschland haben offensichtlich kein großes Interesse daran, die Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums offenzulegen. Es liegt die Vermutung nahe, daß die Polarisierung der Einkommen und Vermögen bewußt verheimlicht wird. Man kann eben besser Wasser predigen, wenn man verschweigt, daß es Weinkeller gibt und wo sie sich befinden.“

Über die Produktivvermögen weiß man noch weniger als über die Privatvermögen. Beck/Meine fragen: „Wem gehört eigentlich die Deutsche Bank?“ Sie gehört zu fünf Prozent einer anderen Aktiengesellschaft, dem Versicherungsriesen Allianz. Damit endet das Wissen über namentliche Eigentümer. Immerhin ist zu erfahren, daß der größte Teil der „Deutschen“ Bank nicht in deutschen Händen ist. Bei anderen deutschen Vorzeigeunternehmen wie Hoechst, Siemens, Bayer ist es ähnlich. Unter den Aktienbesitzern haben Investmentgesellschaften besondere Bedeutung erlangt. Beck/Meine stellen die sieben größten vor: Fidelity Investments, Capital Group, TIAA, Mercury, Calpers, Fleming, ABN-AMRO. Obwohl sie Firmenaufkäufe wie zuletzt bei Krupp/Thyssen mit entscheiden bzw. vorbereiten, sind sie weitgehend unbekannt. Leider kommen Beck/Meine hier – wie an vielen Stellen ihres Buches – über den Kenntnisstand von Manager- Magazin und Spiegel nicht hinaus.

Über die Armutsetage der Gesellschaft ist mehr bekannt. Beck/ Meine schildern nicht nur die dürftige Lage von Sozialhilfeempfängern und Arbeitslosen, sondern auch der working poor. In der Bekleidungsindustrie Sachsens etwa nähen Frauen in nicht tarifgebundenen Betrieben Hosen und Röcke für den Leistungslohn von 7,50 Mark pro Stunde. Doch der wird durch die Leistungsnorm noch weiter nach unten gedrückt: maximal 5,62 Mark pro Stunde oder 955 Mark brutto im Monat. Nach der Rechnung von Beck/ Meine stehen in Deutschland den 10 Millionen Armen 3,1 Millionen Reiche gegenüber. Die Kluft vertieft sich.

Man kann ihnen eine gewisse gewerkschaftliche Biederkeit nicht absprechen, wenn sie ihr soziales Leitbild in der Facharbeiterehe mit Eigenheim und zwei Kindern sehen und „vom guten alten Solidarprinzip des rheinischen Kapitalismus“ schwärmen. Beck/Meine plädieren für eine gerechte Verteilungspolitik. „Dieses Land braucht eine ,Friedensbewegung‘ für soziale Demokratie.“

Der von Ernst-Ulrich Huster herausgegebene Sammelband markierte mit der ersten Auflage von 1993 den (Neu-)Beginn der akademischen Reichtumsdiskussionen. Die zweite Auflage ist auf das Doppelte erweitert und geht auf Verläufe der Reichtumsbildung und ihre Bewertung ein. Nach Huster sind Privathaushalte mit dem doppelten durchschnittlichen Nettoeinkommen – 10.000 Mark pro Monat – reich. 1993 – über spätere Jahre weiß die Statistik noch nichts – gab es davon 1,7 Millionen. „Nicht die 18.000 Einkommensmillionäre, sondern rund 1,7 Millionen Haushalte bestimmen das Bild vom Reichtum in Deutschland.“ Huster stellt weiter fest, daß das Einkommen aus Vermögen und der Reichtum der Superreichen am schnellsten wachsen. Auf die komplizierten statistischen Probleme gehen auch Peter Krause/Gert Wagner („Sozioökonomisches Panel“) und Jürgen Faik/Heinrich Schlomann („Entwicklung der Vermögensverteilung“) ein. Dieter Eißel faßt die „legalen und illegalen Manipulationen“ bei der „Steuergestaltung“ der Reichen und der Unternehmen zusammen: „transfer pricing“, „double dip leasing“, „dutch sandwich“, Steuerhinterziehung. Er untersucht das „Fördergebietsgesetz“ und die enormen Freigrenzen bei der Bewertung des Betriebsvermögens.

Barbara Eberslöh/Michael Krummacher weisen die räumlich und sozial tiefe Spaltung zwischen Wohnungsüberfluß und Wohnungsmangel nach. „Der hohe Wohnkonsum urbaner Mittelschichten ist zu einer der Hauptursachen für die städtische Wohnungsnot geworden.“ Die Wohnungspolitik half nach: Nur 25 Prozent der staatlichen Förderung gehen in Wohngeld und sozialen Wohnungsbau, aber 30 Prozent in die Eigenheimförderung privater Haushalte und 45 Prozent in Steuervergünstigungen für den Mietwohnungsbau, wirken also zugunsten privater Anleger.

Jürgen Espenhorst geht dem Widerspruch zwischen Tabuisierung und Lob des Reichtums nach und skizziert die Mechanismen, wie die Reichen die Nichtreichen dazu bringen, den Reichtum zu verteidigen: Der Machtaspekt wird ausgeblendet. Das tun übrigens die meisten Autoren des Sammelbandes selber, indem sie sich auf die Privathaushalte beschränken und das Produktivvermögen ausblenden. Espenhorst zeigt die sozialen Auswirkungen des mächtigen Reichtums: Die Demokratie wird ausgehebelt, auch dadurch, daß sich die Armen spiegelbildlich orientieren: „Erfolgsethik“ wie „Überlebensethik“ folgen dem neoliberalen Muster. Der Selbstlauf dieser Entwicklung wäre nach Espenhorst politisch tödlich. Er kritisiert nicht den Reichtum an sich, sondern tritt dafür ein, daß die Reichtumsverteilung nach dem Kriterium „gesichertes Minimum für alle“ politisch gestaltet wird. „In dieser Hinsicht ist die Bundesrepublik am Scheideweg angekommen, ist die Frage nach einer ethischen Bewertung des Reichtums eng an die seiner politischen Wertungen gekoppelt.“

Dorothee Beck, Hartmut Meine: „Wasserprediger und Weintrinker. Wie Reichtum vertuscht und Armut verdrängt wird“. Steidl Verlag, Göttingen 1997, 216 Seiten, 34 DM

Ernst-Ulrich Huster (Hrsg.): „Reichtum in Deutschland. Die Gewinner in der sozialen Polarisierung“. Zweite, aktualisierte und erweiterte Auflage. Campus Verlag, Frankfurt 1997, 403 Seiten, 48 DM