Via Guatemala zur letzten Ruhe

Liebe zum Beruf, ein wenig Trotz und die Bitte um einen ungewöhnlichen Diebstahl: Wie der Aachener Psychotherapeut Ingo Hohn zum etwas anderen Leichenbestatter wurde und nun die deutsche Friedhofsbürokratie aushebelt  ■ Von Bernd Müllender

Friedhof „Auf der Hüls“. Die letzte Ruhestätte. Ingo Hohn blickt über die nüchternen Gräberflächen, die so schmucklos sind, trist und grau und nicht nur im November novemberlich. „Das ist dermaßen würdelos und erbärmlich. Wenn du das siehst“, sagt der 30jährige, „weißt du, warum so viele Menschen unbedingt anders bestattet werden wollen als auf so einer Entsorgungsdeponie.“

Ingo Hohn ist Psychotherapeut. Und neuerdings Bestattungsunternehmer. Wie es zu dieser aparten Kombination kam? Das hat mit seiner engen Beziehung zu seinen Patienten zu tun. Und mit dem krebskranken Vater. Mit ein wenig Spiritualität und Trotz, mit Gartenliebe und der Bitte um einen ungewöhnlichen Diebstahl. Die Reise geht über Rom nach Mittelamerika und durch ein Krematorium in Holland. Verwirrend?

Also die ganze Geschichte, geordnet und chronologisch.

Angefangen hat es mit Ingo Hohns Ausbildung zum Krankenpfleger. „Das habe ich mit Leidenschaft gemacht. Vor allem die Arbeit mit Krebspatienten war schön.“ Seine auffällig blauen Augen leuchten auf, wenn er das sagt und einen so durchdringend ansieht. „Das klingt vielleicht nach Mutter Teresa, aber es ist wahnsinnig spannend, wenn todgeweihte Menschen plötzlich anfangen, all diese Sinnfragen zu stellen. Da findet ein hochkreativer Wachstumsprozeß statt.“ Hohn war damals gerade 18 und wußte: „In die Klinik hätte unbedingt ein Psychotherapeut gehört.“ Für so was hatte man kein Geld, und so ersetzte Hohn den fehlenden Therapeuten, so gut er halt konnte.

Aus der Not wurde ein Psychologiestudium, später kamen die Ausbildung und Arbeit als Verhaltenstherapeut hinzu. In der eigenen Praxis in Aachen hat Ingo Hohn es seit zwei Jahren hauptsächlich mit Krebs- und Aidspatienten zu tun. Und da gibt es ein „absolut zentrales Thema“: den Tod, die Vorbereitung aufs Sterben und die Bestattung. Wir sitzen in Hohns Praxisräumen in der Innenstadt, alles sehr hell, aufgeräumt, nüchtern. Ausgenommen die großen bunten Skulpturen und gemusterten Wandbehänge. „Alles Guatemala“, sagt Hohn und lächelt wissend. Nur er weiß in diesem Moment um die Bedeutung dieser Dinge für seine Geschichte. Todgeweihte Therapieklienten wollen vor allem eines wissen: Was passiert am Tag X mit mir? Wie soll mein Sarg aussehen? Wie möchte ich beerdigt werden? Vor allem: Wie nicht!

Manche sitzen bei Ingo Hohn und entwerfen ihre eigene Todesanzeige, um über den Tod hinauszudenken. „Bei ganz vielen“, sagt er, „beobachte ich eine große archaische Angst davor, lebendig begraben zu werden.“ Wie nur mag sich ein Sarg anfühlen? Ein Therapeut muß helfen – also ging Hohn mit einem Patienten und dessen Angehörigen zu einem Bestattungsunternehmer: Der Herr möchte probeliegen. Staunen. Aber es ging. Deckel auf, Deckel zu, die Dunkelheit spüren. „Wenn man weiß“, sagt Hohn, „wie warm und gepolstert es innen ist, gibt es einem ganz feine, aber wichtige Verbindungen zum Danach, damit da nicht diese große schwarze Wand kommt...“

Die unheimliche Wand! Das Nichts! Über alles reden zu können sei „ein Akt der Freiheit“ und „die entscheidende Variable im psychotherapeutischen Prozeß“. Freiheit? Genau da kommt der Sterbendentherapie die rigide deutsche Friedhofsordnung in die Quere. Wer hierzulande stirbt, kriegt 20 Jahre Gruft, Minimum. Wahlmöglichkeiten: Sarg oder Urne. Mit Namen oder anonym. Punkt. Aus. Ein Grab, auf 20 Jahre gemietet, füllt die Stadtsäckel mit mindestens 4.000, in Berlin auch bis zu 8.000 Mark. Schon bei einer schlichten Beerdigungszeremonie schlägt der Tod locker mit 15.000 Mark zu Buche. Und da hat der Friedhofsgärtner noch keine Erika zum Blühen gebracht und noch kein Buchsbäumchen beschnitten.

Das verbleibende Häuflein Asche – jeder dritte Deutsche läßt sich heutzutage verbrennen, in Großstädten fast jeder zweite – gilt als Sondermüll: Furane, Medikamentenreste, Dioxine. Finger weg, sagt da das deutsche Recht, das bleibt auf dem Friedhof. Argumentiert wird mit Pietät. „Das ist zum Haare-Ausraufen“, schimpft Ingo Hohn. „Die Würde und Persönlichkeit eines Verstorbenen liegen in seiner Person, in seinen Wünschen und nicht in seiner Asche. Pietät ist etwas anderes als schwarze Anzüge und weiße Handschuhe.“

Die Wünsche seines eigenen Vaters führten Hohn selbst einen entscheidenden Schritt weiter auf dem Weg zum alternativen Bestatter. Hohn senior, zeit seines Lebens ein großer Gartenliebhaber, sei an Krebs erkrankt. Und es habe nicht lange gedauert, bis er Sohn Ingo zur Seite genommen habe: „Er sagte mir, er wolle nicht auf so einem Friedhof bleiben, ich solle seine Urne heimlich ausgraben und die Asche bei ihm zu Hause im Garten verstreuen.“ Der Sohn zuckte mit den Schultern: Das ist ja Diebstahl, da macht man sich ja strafbar. Das geht doch nicht...

Geht nicht? Im Sommer sitzt Ingo Hohn in einem Café in Rom und liest einen Artikel über Beerdigungskulturen und Totenkulte in aller Welt. Und staunt nicht schlecht darüber, was woanders alles möglich und üblich ist: letzte Ruhe in der Urne im Wohnzimmer oder im Garten oder an irgendeinem Lieblingsplatz. Oder, sinnbildlich für die Vergänglichkeit: als Asche verstreut im Wind, im Irgendwo, im Nirgendwo... „Plötzlich wußte ich: Es geht. Und es ist so dusselig einfach.“

Hohn erzählt seinem Anwalt von seinem Vorhaben. Der hebt den Daumen: „Das geht!“ Hohn geht zum Ordnungsamt, holt sich einen Gewerbeschein, geht zur Handelskammer und meldet sich an. Zwei Stunden dauert das, inklusive Fußwege. Dann ist er offiziell Leichenbestatter. Er macht einen Vertrag mit dem Krematorium nebenan, in Heerlen/Niederlande. Und, ganz entscheidend: Er aktiviert seine Kontakte nach Guatemala, wo er vor vielen Jahren gelebt und gearbeitet hat.

Und so funktioniert es nun: Die Abwicklung der Bestattung bis zur Verbrennung übernimmt ein normales Beerdigungsinstitut. Hohn fährt die Leiche selbst über die Grenze. Muß man da nicht einen Leichenwagen anschaffen? Das habe er anfangs auch gedacht, sagt Hohn, aber der Krematoriumsbetreiber in Heerlen habe ihm lachend die Branchen-Usancen gesteckt: „Die kommen doch alle mit ganz normalen Lieferwagen, VW- Bus und so.“ Leichenwagen seien nur zum Repräsentieren da.

Es folgt der Abflug der Asche. „Nach der Kremierung lasse ich die Urne nach Guatemala bringen. Dabei helfen mir gute Kontakte, deswegen möchte ich auch ein kleines Geheimnis um das Wie lassen.“ Aber, versichert er, die Urne fliege tatsächlich, taktvoll begleitet, nach Mittelamerika, werde dort beigesetzt und bekomme die entscheidende behördliche Bestätigung, wie sie deutsche Beamte glücklich macht: Guatemala kennt keine Friedhofsverweilpflicht.

Und so kann Hohns Export-Import-Modell greifen. Der Urne wird ein Hauch guatemaltekische Erde beigestreut. Dadurch kommt sie formal nicht mehr als Urne retour (wodurch sie nach deutschem Recht beerdigungspflichtig wäre), sondern als „Behältnis mit im Andenken des Verstorbenen geweihter Friedhofserde“. Da macht es nichts, wenn, wie Hohn mit einem kleinen triumphierenden Lächeln sagt, „die Erde halt einen hohen Kalkanteil hat“.

Nun liegt es bei den Verwandten und Freunden, was sie mit den Überresten ihres Liebsten machen, so, wie das längst möglich ist in Neuseeland oder England und wie es in den Niederlanden gerade diskutiert wird. „Es gibt so viele Ideen und Wünsche“, sagt Hohn. „Und all das ist für viele Menschen sehr wichtig, vor allem für die Hinterbliebenen der Toten.“ Nicht jeder braucht und will einen besonderen, festen Ort für seine Trauer, für Andacht und Erinnerung an den Liebsten. Doch wer denkt vorher wirklich darüber nach?

Hierzulande heißt der Tod „Trauerfall“; er tritt ein – und wird abgewickelt. Das macht das Geschäft mit dem Ableben leicht. Die schwarzen Schafe unter den „Bestattungsinstituten“ treten in Herdenstärke an. Es profitiert eine große Koalition aus Floristen und Friedhofsgärtnern, Forstwirtschaft und Sargtischlern, Steinmetzen, Krematoriumsbetreibern, Totengräbern und Leichenschmaus-Wirten. Die strikten deutschen Beerdigungsverordnungen sind sehr hilfreich; Ideen à la Hohn gelten immer noch als kontraproduktiv.

Ausnahme ist da etwa das „Haus der menschlichen Begegnung“ in Bergisch Gladbach, ein alternatives Bestattungsunternehmen. Hier finden Trauerseminare und Selbsthilfegruppen statt, hier wird man ermuntert, den Sarg selbst zu bauen oder zu bemalen, hier wird regelmäßig eine Kabarett-Matinee zum Thema Tod angeboten, hier lernt man im Seminar „Berührungsängste“, Tote überhaupt anzufassen und zu waschen. Inhaber Fritz Roth sagt: „Wenn jemand stirbt, muß man alles erst wieder ausgraben: Gefühle zeigen, es wagen zu weinen, Träume erzählen. Der Tod ist oft die letzte Bastion, um wieder an seine Gefühle ranzukommen, zu Nähe, zu einer Rebellion. Der Tod setzt oft anarchistische Energien frei; Trauer hat eine anarchistische Gewalt, weil sie alles radikal in Frage stellt.“

Im allgemeinen ist die konservative Branche der Bestatter noch immer der abendländischen Kultur und Kirchenmoral verpflichtet. Wenn es indes stimmt, was man hinter vorgehaltener Hand hört, machen einzelne Unternhemen inzwischen ähnliche Lösungen wie die des Ingo Hohn gelegentlich möglich. Der große Unterschied: Sie tun dies verschwiegen. Und nur für eine betuchte Klientel, bei der die Kasse so richtig klingelt. „Dagegen will ich meinen Weg offiziell und öffentlich gehen“, sagt Ingo Hohn: „Ohne die legale Seite, ohne Sicherheit kann ich mit meinen Patienten nicht therapeutisch arbeiten. Wer nur noch zwei Wochen zu leben hat, der will keine Tricks und vagen Versprechungen. Der will wissen: Ja, so machen wir es. Das ist ein Weg. Und der kann darauf vertrauen, daß der Weg so gegangen wird.“

Schade nur, bedauert Hohn, daß sich sein kranker Vater bislang nicht mit der Guatemala-Reise anfreunden könne. „Da sind halt noch viele Barrieren und Ängste.“ Vor allem bei Hohns Mutter mit ihrem katholischen Glauben „ist das extrem“. Sie könne sich nicht mal mit einer Einäscherung ihres Mannes anfreunden. Und noch schlimmer, sie hat ihrem Sohn gesagt: „Du mit deinen Ideen, du bist ja verrückt!“ Hohn zuckt die Schultern: „Da kommst du nicht von heut auf morgen gegen an. Das dauert.“