■ Das neue Sexualstrafrecht soll den Schutz von Kindern verbessern. Doch härtere Strafen können auch den umgekehrten Effekt erzielen
: Gut gemeint, schlecht getan

„Der ganze Raum war erfüllt von ihrer Angst vor dem Festgehaltenwerden, dem Bewußtsein, daß sie sich festhalten und quälen lassen mußte, um sich das Wohlwollen ihrer Peiniger zu verdienen. Sie kreischte. ,Nein, nein, nein‘ ... hilflos, voller Scham, daß der Mann sie betastete und bloßlegte.“ Wer „Die Memoiren einer Überlebenden“ von Doris Lessing gelesen hat und sich in die geschilderte Situation einzufühlen vermag, wird intuitiv die vom Bundestag kürzlich durchgesetzte Strafverschärfung bei sexuellem Mißbrauch von Kindern begrüßen. Bislang stellte auch ein oftmals Jahre andauernder sexueller Mißbrauch rechtstechnisch in der Regel nur ein „Vergehen“ dar. Ein Geldbörsendiebstahl mit vorgehaltener Spielzeugpistole war hingegen stets ein „Verbrechen“. Solche Ungleichgewichtungen bildeten einen Anachronismus und widersprechen dem aktuellen Rechtsempfinden. Doch die neue, moralisch durchaus einleuchtende Regelung droht zu einer rechtlichen Fessel zu werden, die das Martyrium vieler Kinder und Jugendlicher unter sexuellen Attacken Erwachsener verlängert.

Zukünftig muß, wenn der Tatbestand einer erheblichen Schädigung der körperlichen oder seelischen Entwicklung des Mißbrauchsopfers erfüllt ist, eine Verurteilung folgen. Verfahrenseinstellungen mit Auflagen für den Täter sind nicht mehr möglich. Strafaussetzungen zur Bewährung werden erschwert. Von CDU/CSU bis zu den Grünen werden diese Neuerungen als Erfolg gefeiert. Sie haben jene Fälle im Blick, in denen es angeraten ist, Tätern durch lange Haftstrafen oder eine Sicherungsverwahrung Kontaktmöglichkeiten zu potentiellen Opfern zu verwehren. Doch dies gilt nur für eine kleine Gruppe sadistischer oder pädophiler Krimineller.

Die übergroße Mehrheit sexueller Übergriffe erfolgt indes durch Personen, die nicht in dieses Schema passen. Die meisten Täter stammen aus dem sozialen Umfeld des Opfers. Sehr häufig handelt es sich um Väter, Stiefväter oder anderen Bezugspersonen. Nicht Kälte, Gefühllosigkeit und Brutalität kennzeichnen sie, sondern oft eher Ängstlichkeit und fehlende Selbstachtung. Inzestbeziehungen gibt es auch in „gutbürgerlichen“, unauffälligen Familien häufig über Jahre hinweg. Inzestfamilien leben meist sozial isoliert, deshalb fehlen den Opfern Ansprechpartner. Oft sind sie zudem in eigene Schuldgefühle verstrickt, am Inzest mitzuwirken oder durch ein Öffentlichmachen des Skandals ihre Bezugsperson zu „verraten“. Außenstehende erscheinen solchen Familien daher meist als eine Black box.

Wirksamer Kinderschutz hieße, mit sozialen Hilfsangeboten, aber auch mit dem Strafrecht Licht ins Dunkel zu bringen. Und Räume zu schaffen, wo betroffene Kinder, mitbetroffene Angehörige oder auch die Täter ihr Verhalten zur Sprache bringen und Lösungsversuche ansetzen können.

Die jetzige Strafrechtsverschärfung bewirkt das Gegenteil. Die für den Bereich sexuellen Mißbrauchs im familiären Umfeld vermutete extrem hohe Dunkelziffer bleibt weiterhin im dunkeln. Schon bislang war das Strafrecht im Bereich sexuellen Mißbrauchs innerhalb von Familien eine stumpfe Waffe. Mit der neuen Rechtslage wird das Anzeigen eines Kindesmißbrauchs durch den Ehepartner oder durch andere Angehörige nahezu unmöglich gemacht. Denn viele Ehefrauen sind durchaus gespalten zwischen dem Mitleid für ihr geschundenes Kind und ihrer materiellen oder emotionalen Abhängigkeit vom Ehepartner. Für nicht wenige ist zudem die Frage „Was sollen die Nachbarn denken?“ ein entscheidendes Motiv, auf Hilfe von Dritten zu verzichten. Wird schwerer sexueller Mißbrauch künftig durchgängig als Verbrechen gewertet, werden noch mehr Mütter schweigen, weil die Furcht vor den Folgen einer Verurteilung ihres Partners für sie stärker wiegt als das Leid ihrer Kinder. Denn Strafverschärfungen ermuntern nicht, Hilfen von Dritten einzufordern, sondern schrecken ab. Als Folge des neuen Strafrechts wird daher die Zahl der zur Anzeige kommenden Mißbrauchsfälle zurückgehen, ohne daß sich am tatsächlichen Ausmaß sexuellen Mißbrauchs etwas ändert. Ins Weltbild jener passend, die soziale Konflikte wesentlich durch Strafrechtsverschärfungen eindämmen wollen, wird dies womöglich noch als Erfolg der jetzigen Neuregelung gefeiert werden.

Die beschlossene Rechtsregelung verhärtet aber nicht nur das Tabu, über sexuellen Mißbrauch in der Familie zu sprechen. Sie gibt auch der Illusion Nahrung, daß wirksamer Kinderschutz vor allem heißt, die Opfer von ihren Peinigern zu befreien. Dies ist aber mindestens dann, wenn die Täter selbst Teil der gestörten Familie sind, kein Königsweg. Denn mißbrauchte Kindern sind häufig emotional weiterhin auf ihre Eltern angewiesen. Nur die aktive Auseinandersetzung mit deren Tun und Versagen bietet ihnen eine Chance, die seelischen Erschütterungen zu verarbeiten. In der Vergangenheit war eine Einstellung von Strafverfahren möglich, wenn sich die Täter beispielsweise einer Therapie unterzogen. Dies fällt zukünftig weg. Schon bislang gab es kaum Unterstützung, wenn eine Mißbrauchsfamilie freiwillig eine Kindesmißhandlung offenlegte. Nun ist dieser Weg strafrechlich vollends verbaut. Immerhin wiesen die Grünen auf die Wirkungslosigkeit bloßer Strafverschärfungen hin – um im gleichen Atemzug einschneidendere Sanktionen zu fordern. Ihr Argument: Nur mit der Einstufung als Verbrechen könne das Unrecht sexueller Mißbrauch öffentlich dokumentiert werden. Solche symbolhafte Darstellung der moralischen Verwerflichkeit einer Tat ist sicher eine Funktion des Strafrechts – auch wenn sie keine präventive Wirkung besitzt. Wer heute Kinder sexuell mißbraucht, tut dies ohnehin im Wissen, gegen ein gesellschaftliches Tabu zu verstoßen. Die Verniedlichung sexueller Praktiken mit Kindern, wie sie noch in den achtziger Jahren von auflagenstarken Herrenmagazinen oder auf Parteitagen der Grünen betrieben wurde, findet heute kaum noch Zuspruch. Kindesmißbrauch gilt nicht mehr als ein „Kavaliersdelikt“. Auch deshalb wäre eine Regelung vertretbar, die dem konkreten Opferschutz einen höheren Stellenwert beimißt. Dies hieße vor allem, den Angehörigen von Inzestfamilien die Angst vor den Folgen eines Hilferufs zu nehmen. Rechtliche Anreize auch für Täter und Mitwissende, sexuelle Gewalt aufzudecken und an der eigenen Resozialisierung mitzuwirken, könnten den Opfern eher helfen, als die jetzige selbstgefällige und in Strafrechtsnormen gegossene moralische Entrüstung. Harry Kunz