Angstabbau wechselseitig

■ Ghettos laufen Gefahr zu explodieren. Vor allem die Bewohner haben zu leiden

Das Schicksal unserer Städte wird in hohem Maße – neben der Entwicklung des Arbeitsmarktes, der Sicherung innerstädtischen Wohnens und der Bewältigung der Verkehrsströme – dadurch entschieden, ob es gelingt, die fortschreitende soziale und räumliche Segregation zu bremsen und in Richtung der Wiederbelebung der sozialen und räumlichen Mischung und damit der Integration umzukehren.

Daß soziale Integration auf ökonomischen Bedingungen beruht, auf Wachstum, sozialer Absicherung und einer gesicherten Existenz, ist und bleibt unumstritten. Das gilt auch für die Diagnose, daß die wachsende Zahl der Langzeit- und Dauerarbeitslosen und der neu zugewanderten Armutsimmigranten in eine Randexistenz geraten und von wesentlichen Aspekten des Lebens in der Gesellschaft ausgeschlossen bleiben können – und zwar dauerhaft, wenn die Politik nicht gegensteuert.

Damit aber eine Entwicklung zu beschwören, wie sie sich in Ghettos der US-Städte manifestiert hat, wäre unzutreffend und wenig hilfreich. Zweifellos ist Integration ein langwieriger und konfliktreicher Prozeß, der ständiges, hartnäckiges Bemühen um Erfolg, unablässiges Aufklären und geduldiges Einüben erfordert. Dennoch scheint mir die Befürchtung unbegründet, daß die zweite und dritte Generation der Immigranten und die heutigen Zuwanderer zusammen mit den deutschen Langzeitarbeitslosen allmählich eine „urban underclass“ bilden und dauerhaft aus Arbeits- und Wohnungsmarkt, aus den politischen und sozialen Zusammenhängen der Gesellschaft ausgegrenzt und an den Rand gedrängt werden.

Meine Erfahrung in vierzig Jahren Kreuzberger Praxis geht in eine andere Richtung. Die Mischung in den Stadtquartieren ermöglicht es, andere Verhaltens- und Lebensweisen zu erfahren und mitzuerleben, und dies hautnah. Immerhin muß die Anstrengung zu einem langen und mühseligen, aber alternativlosen Weg zu einem gemischten und überwiegend friedlichen Nebeneinander und nachbarschaftlichen Miteinander aufgebracht werden. Natürlich nimmt das beide Seiten in die Pflicht, Deutsche wie Immigranten, die im übrigen für Kreuzberg ein stabilisierender Faktor sind und waren. Das gilt auch für die Infrastruktur der Versorgung mit den Gütern des alltäglichen Bedarfs und Dienstleistungen in Handel, Handwerk und Gewerbe.

Bei allem Optimismus dürfen die real existierenden Ängste vor dem Integrationsprozeß aber nicht verkannt werden. Sie gibt es auf beiden Seiten und lassen sich nicht einfach wegdiskutieren. Der notwendige Angstabbau bedarf aktiver Bemühung beider. Deutsche und Immigranten müssen wechselseitig aufeinander zugehen. Dies aber ist nur im Alltag der Mischung möglich und läßt sich nicht durch staatliches Forcieren erzwingen. Es ist und bleibt eine gemeinschaftliche, gesamtgesellschaftliche Aufgabe, für die der Staat und die Kommunen nur günstigere Rahmenbedingungen schaffen können und es auch tun sollten.

Die Überzeugung, daß Integration gelingen kann, stützt sich auf die Beobachtung der dritten, fast schon vierten Generation der Immigranten: der Kinder in den Krippen, Kindergärten, Vorschulen, in den Horten und den Anfänger- Schulklassen, die gemischt sind. Hier herrscht noch Unbefangenheit, bilden sich Freundschaften zwischen deutschen und ausländischen Kindern, funktioniert herzliche Kommunikation – noch unbeeinflußt von verkrümmten, ideologischen Vorurteilen, Fehleinschätzungen und Falschbewertungen Erwachsener.

Längst leben wir in einer multikulturellen, multiethnischen Stadtgesellschaft, in der die jeweils anderen, „fremden“ kulturellen Identitäten nicht bedroht werden dürfen, sondern die eigene Besonderheit in die Entwicklung der urbanen Kultur eingebracht werden müssen. Vielfalt in der Einheit, Einheit mit Vielfalt, bei gegenseitiger Durchdringung in der Mischung – das allein kann den Weg in die Zukunft einer gelungenen Integration, bei wechselseitigem Respekt und ohne Unterwerfung oder gar Unterdrückung weisen. Das ist auch demokratisch und human und hebt bisherige Besonderheit und Identität, beendet ihren rechtlichen Minderheiten-Status, beendet ihre Diskriminierung und verschafft ihnen anerkannte Gleichwertigkeit.

Das kann nicht – auch nicht als Zwischenschritt – durch Segregation, durch räumliche Ab- und Ausgrenzung in „kulturell verschiedene Dörfer“ geleistet werden, in denen womöglich die BewohnerInnen weitgehend unterprivilegiert im eigenen homogenen Saft schmoren müssen, die meisten von ihnen auf niedrigem sozialen Niveau weiterer Verelendung ausgesetzt, während wohlhabend gewordene Aufsteiger solchen Ghettos durch Wegzug entfliehen würden. Ghettos laufen zudem Gefahr, zu implodieren oder auch zu explodieren, worunter nicht nur, aber vor allen anderen die Bewohner der Ghettos selbst zu leiden haben. Werner Orlowsky