„Arbeit wird immer unbedeutender“

■ Der Münchner Soziologe Ulrich Beck, Mitglied der Zukunftskommission, über den neuen Bericht

taz: In dem Bericht der Zukunftskommission ist viel von Individualisierung die Rede, von Unternehmergeist, von Privatisierung staatlicher Leistungen und der unvermeidlichen Senkung des Lebensstandards großer Bevölkerungsgruppen. Ist aus dem Individualisierungstheoretiker Ulrich Beck ein Neoliberaler geworden?

Ulrich Beck: Natürlich nicht.

Aber es liest sich so.

Man muß zwei Dinge auseinanderhalten. Der Bericht akzeptiert zum einen die Individualisierung als Ausgangslage unserer gesellschaftlichen Entwicklung. Er leitet daraus eine größere Verantwortung des einzelnen ab. Der Zukunftsbericht durchdenkt zum anderen sehr konsequent verschiedene ökonomische Strategien. Wir bezeichnen sie als Erneuerungsstrategie und als Anpassungsstrategie. Als Konsequenz unserer Analyse wird sichtbar, daß auf diese Gesellschaft ein dramatisches Problem zukommt: die Verschärfung sozialer Ungleichheiten.

Veränderte gesellschaftliche Leitbilder, so behauptet die Zukunftskommission, sind der zentrale Punkt für die Erneuerung der Gesellschaft. An welche Leitbilder denken Sie da?

Wir müssen uns gedanklich verabschieden von der arbeitnehmerzentrierten Industriegesellschaft. Bisher konnte jeder davon ausgehen, daß er nach einem Ausbildungsabschluß einen für ihn passenden Arbeitsplatz „zugewiesen“ bekommt. Darauf hat keiner mehr ein Grundrecht. Es gehört zur Ehrlichkeit dieser Zukunftskommission, das ausgesprochen zu haben. Wichtig wird in Zukunft eine wohlverstandene Allgemeinbildung, die sich gerade nicht an ökonomische Anforderung koppelt – in einem Sinne, daß Bildung dann, klassisch auf Humboldt bezogen, als Bildung und nicht als Ausbildung bezeichnet werden kann.

Als neues Leitbild bezeichnen Sie in dem Bericht aber „den Menschen als Unternehmer seiner Arbeitskraft und Daseinsvorsorge“. Das klingt sehr ökonomistisch.

Sie haben recht, das gebe ich sofort zu. Die Kommission hatte einen sehr ökonomischen Blick. Das ist nicht mehr zu korrigieren. Diese Art des Denkens ist in der Tat sehr weit verbreitet. Es gibt aber auch immer den anderen Blick, der stärker die Eigeninitiativität, die Kreativität, die Kultur des eigenen Lebens betont. Es gibt viele Passagen in dem Zukunftsbericht, die davon geprägt sind.

Ein zentraler Begriff taucht bei Ihnen fast gar nicht auf: Gerechtigkeit. Warum?

Er taucht auf, zum Beispiel in dem Kapitel über Bildung. Gerade angesichts der zunehmenden Ungleichheit gewinnt das Gerechtigkeitsproblem eine enorme Bedeutung. Die Stellung der Bildung muß in einem System verschärfter Ungleichheit neu diskutiert werden: Wie wird durch Bildung qualifiziert? Aber vor allem: Wie werden Menschen durch Bildung auch ausgeschlossen?

Dennoch wird Gerechtigkeit nicht als eine zentrale Frage behandelt.

Man darf an die Zukunftskommission nicht zu hohe Erwartungen richten. Wir haben fast ausschließlich darüber nachgedacht, wie Beschäftigung intensiviert werden kann und welche Folgen sich daraus ergeben. Wir haben nicht auch noch die Folgen dieser Folgen bedacht.

Warum nicht?

Am Anfang unserer Arbeit hatten wir sehr viele Rosinen im Kopf. Wir wollten über die ökologische Frage diskutieren und das Sozialsystem insgesamt reformieren. Wir haben uns damit schnell übernommen. Die Folgen unserer ökonomischen Strategien bedürfen einer öffentlichen Diskussion oder einer zweiten Zukunftskommission.

Ihre These, staatliche Ausgaben und Leistungen so weit zurückzufahren wie möglich, provoziert eine Gegenfrage: Wieviel Staat ist denn nötig? Oder besser: wieviel Sozialstaat?

Eine unserer Grunddiagnosen ist, daß Arbeit in Zukunft eine immer geringere Bedeutung haben wird, Wissen und Kapital hingegen eine immer größere. Man muß also sehr gezielt überlegen, wie man immer mehr Menschen an der Vermögensbildung beteiligen kann. Alle Formen dieser Vermögensbeteiligung gewinnen eine Schlüsselbedeutung – und zwar nicht als Hobby oder als Notgroschen, sondern als Frage der sozialen Gerechtigkeit. Bei diesem Übergang ist der Staat zentral gefordert. Diese Paradoxie – mehr Eigenverantwortung und gleichzeitig mehr Staat, um die Reformen durchzusetzen – durchzieht den gesamten Zukunftsbericht. Interview: Jens König