Kollektive Beichte

■ Stage attacks auf Kampnagel: Das Live-Art-Projekt „Forced Entertainment“operiert mit Speak Bitterness an der Schnittstelle von Leben und Kunst

England und Theater – ein Liebesversprechen, das die schrulligen Insulaner ebenso zärtlich hegen wie ihre feierliche Teezeremonie. William Shakespeare hat die leidenschaftliche Liebe einst entfacht und wohl kaum damit gerechnet, daß sie bis heute Bestand haben sollte. Doch was machen englische Theaterleute im ausgehenden 20. Jahrhundert, deren Lebenserfahrung sich längst nicht mehr mit Inszenierungen der Royal Shakespears decken und deren Lebensläufe sich vorzugsweise mit Punk, Pop und Postmoderne nähren?

Bitterkeit aussprechen! Das zumindest tut Forced Entertainment, eine Theatergruppe aus Sheffield, die vor 10Jahren ein Performance-Projekt ins Leben rief, für dessen Genre es bis dahin noch nicht mal einen Namen gab. „Live Art“wurde es feierlich getauft, das kreischende Baby. Rasch bildeten sich Kollektive aus allen künstlerischen Bereichen, um ein Netzwerk zu bilden und die ewige Diskussion um die Schnittmenge zwischen Kunst und Leben erneut aufzukochen. „Kunst im Leben – Leben in der Kunst“lautet das Motto der Live-Art-Protagonisten, die ihre Alltagserlebnisse nicht mehr in heimliche Tagebücher verbannen, sondern mit der Öffentlichkeit teilen.

Speak Bitterness soll ein Geständnis sein. Eine kollektive Beichte über Boshaftigkeiten, Grausamkeiten in der großen und kleinen Welt, über Jugendsünden, Peinlichkeiten und all die dunklen Abgründe des täglichen Lebens. „We confess...“, behaupten die Männer und Frauen unermüdlich, Auge in Auge mit einem Publikum, das zunächst glaubt, den Richtstuhl zu besetzen.

Aber wie geht „richten“, wenn nach wenigen Minuten klar wird, daß all die dunklen Abgründe ebenso im eigenen kleinen Seelchen beherbergt sind? Kennen wir nicht alle niedere Mordgelüste, schrien wir nicht alle „fuck the system“, weil es chic war, hörten wir nicht auch im Pubertätswahn fünfzehnmal hintereinander „Stairway To Heaven“, ohne dabei zu erröten, oder vergessen wir nicht auch im alltäglichen Leben immer wieder ein simples „Es tut mir leid“?

Vollgeschrieben mit diesen und ähnlichen Statements sind all die tausend Zettel, die da so rumfliegen auf einem langen Tisch, der den Schutzwall bilden soll zwischen Performer und Zuschauer. Die Zettel werden verlesen, sind austauschbar und lassen sich willkürlich herauspicken wie Lotterielose. All das geschieht natürlich nicht ohne eine wohlproportionierte Prise zärtlicher Ironie und die hingebungsvolle englische Passion zum schwarzen Humor. Und so sind Forced Entertainment dem guten alten Vater des englischen Dramas wohl näher, als zunächst vermutet wird. Denn wer außer Shakespeare hat je so treffsicher die Schnittstelle zwischen Leben und Kunst, Wahrheit und Lüge, Liebe und Haß auf eine Bühne transportiert.

Claude Jansen

Donnerstag, 27. November – Sa, 29. November, 20.30 Uhr, k1