Keine Antwort auf das Warum

■ Vor fünf Jahren quälte die damals 15jährige Jeannette S. ein anderes Mädchen grausam zu Tode. Ein Dokumentarfilm begibt sich auf die Suche nach Gründen und Hintergründen der Tat

Für jeden der mit dem Fall Betrauten ist die Sache auf seine Weise klar: Die Psychologin hat sich entschieden, nur den Schmerz der 21jährigen zu sehen. Die Gerichtsgutachter sehen nur ihre Brutalität, ebenso die Staatsanwältin. So legt sich jeder sein Erklärungsmuster zurecht: Hier schlägt eine zurück, ein Akt der Befreiung eines mißhandelten Mädchens. Viel zu einfach, sagen die anderen, wie viele Mädchen werden geschlagen und enden nicht als Mörderin? Wieder andere weigern sich, die Vergangenheit der jungen Frau überhaupt zur Kenntnis zu nehmen. Doch entsetzt fragt sich jeder, wie so etwas passieren kann.

Aelrun Goette weiß es auch nicht. Dabei ist sie vermutlich diejenige, die Jeannette seit ihrer grausamen Tat am nächsten gekommen ist. „Die Warum-Frage kann ich auch nicht beantworten“, sagt sie kopfschüttelnd, obwohl sie vor vier Jahren natürlich den Anspruch hatte zu begreifen, wie eine 15jährige dazu kommt: Ihre 13jährige Rivalin in einen Keller zu sperren, zusammen mit drei Freunden solange mit Ketten auf sie einzuschlagen, Zigaretten auf ihr auszudrücken, sie aufzuhängen, bis sie schließlich stirbt.

Und alles nur, weil die 13jährige Melanie im brandenburgischen Schwedt herumerzählt hatte, von Jeannettes Freund René schwanger zu sein. „Diese Tat“, konstatierte damals die zuständige Staatsanwältin Petra Marx, „ist die brutalste, die Jugendliche in Deutschland jemals begangen haben.“ Gefängnisbeamte geben unumwunden zu, sich nachts manchmal Jeannettes Akte kommen zu lassen. „Besser als jeder Gruselroman“, sagen sie.

Als die damals 28jährige Brandenburger Filmhochschülerin Aelrun Goette im Jahre 1993 erstmals den Frauentrakt in der Justizvollzugsanstalt Plötzensee betrat, um dort einen Film über Frauen im Knast zu drehen, war der Hintergrund eher zynisch: „Eigentlich wollte ich Straßenkinder in Lichtenberg filmen“, lacht sie, „aber die waren so unzuverlässig. Da hatte man für teures Geld seine Ausrüstung zusammen, und dann kam keiner.“

Von all den Frauen im Knast, „unter denen fast keine ist, die nicht geschlagen wurde“, sei die Wahl auf Jeannette gefallen, weil „wir von Anfang an über ähnliche Dinge gelacht haben“ und weil ihr deren Motiv für die Mitarbeit eingeleuchtet habe: „Jeannette wollte einen filmischen Brief an ihre Eltern schreiben, die von ihr nichts mehr wissen wollen“, erzählt Aelrun Goette. So entstand der erste Kurzfilm – sowie ein Verhältnis, das immer intensiver, aber bis heute nicht unkompliziert wurde.

Seit 1993 geht Aelrun in Plötzensee ein und aus, begleitet Jeannette nicht nur als Filmemacherin, sondern erledigt auch als Vollzugshelferin deren Formalitäten, „weil ich das Gefühl hatte, nicht einfach so wieder abhauen zu können“.

Ihr Dokumentarfilm „Ohne Bewährung – Psychogramm einer Mörderin“, der am 29.November in den Tilsiter Lichtspielen und am 3. Dezember im ORB gezeigt wird, ist ein einfühlsames Porträt einer jungen Frau, die im Knast erwachsen geworden ist. Jeannette hat viele Gesichter. Mal ist sie das liebe kleine Mädchen, das mit unschuldigem Augenaufschlag fragt „Nimmst du mich mit raus?“, dann wieder kokettiert sie mit ihrer Weiblichkeit, klimpert mit ihren Augenlidern in Richtung Kamera, wenig später ist sie die abgeklärte Braut, die alles weiß, „sowieso keine Träume“ mehr hat und mit dem Leben eigentlich abgeschlossen hat. Nur das Gesicht eines grausam mordenden Mädchens – das zeigt sie nie.

Statt dessen schwankt sie zwischen der, die meint, am besten bliebe sie ihr ganzes Leben hinter Gittern, weil sie nicht weiß, ob ihr „so etwas“ nicht wieder passiert, und der, die sich nichts sehnlicher wünscht als ein normales Leben. „Sie behandelt sich wie jemanden, der mehrere Persönlichkeiten hat“, sagt Goette. Über den Tag im Herbst 1992, als sie die grausame Tat begangen hat, spricht Jeannette kaum noch. Nichts ist mehr zu sehen von der Coolness, mit der sie noch vor vier Jahren beim Prozeß dasaß und den Tatverlauf referierte, sich wunderte, „daß die einfach nicht totgegangen ist“.

Statt dessen erweckt sie den Eindruck, als wenn sie die Tat komplett von sich abgespalten hätte. Auch in ihrer fünf Jahre währenden Therapie ist die Verarbeitung der Tat noch in weiter Ferne: Erst einmal wird ihre Kindheit behandelt, die Mißhandlungen und Vergewaltigungen in der Familie, und dann, mit neun Jahren, die Flucht auf die Straße. Der Film macht es dem Zuschauer nicht leicht, eine Antwort zu finden auf all seine Fragen. „Ich glaube, auf die Frage nach den Ursachen gibt es keine Antwort“, sagt Goette. „Aber ich will, daß die Leute Nähe aufbauen und sich trotzdem mit der Grausamkeit dieser Tat konfrontieren. Am Ende muß jeder für sich entscheiden, wie man mit Menschen wie ihr umgeht.“

Außer der Frage, wie sinnvoll es ist, ein Mädchen für knapp neun Jahre in den Knast zu stecken, stellt sich auch die nach der Mitverantwortung: Da bringt eine 15jährige aus Eifersucht eine 13jährige um. Nach Aussage der Therapeutin hat es im Vorfeld genügend Hinweise gegeben, die offensichtlich von niemandem beachtet wurden. Noch am Tag vor ihrem Tod wurde Melanie von Jeannette und deren Freunden vor der Schule verprügelt und erstattete Anzeige wegen Körperverletzung. Und schon Monate vorher rannte Jeannette mit ihrer Freundin durch Schwedt und prahlte damit, jemanden umbringen zu wollen. „Hingucken hat keine Lobby“, sagt Aelrun Goette, „aber diesen Fall von sich wegzuschieben ist nicht so einfach: Da hat nicht irgendein Penner einen anderen umgebracht, sondern ein Kind hat dazu angestiftet, ein anderes zu Tode zu quälen.“ Jeannette Goddar

„Ohne Bewährung – Psychogramm einer Mörderin“: 29.11., 19 Uhr, Tilsiter Lichtspiele, Friedrichshain 3.12., 23 Uhr, ORB