Cinematographische Flaschenpost

■ Der Montagefilm „Level 5“zeigt die letzte Schlacht des II. Weltkriegs als Videospiel

Wie die letzte Überlebende einer zugrundegegangenen Zivilisation sitzt die junge Laura (Cathrin Belkhodja) in einem winzigen, abgedunkelten Raum. Geblieben sind ihr lediglich ein optional-world-linked-computer, der ihr Zugang zu den Archiven der Vergangenheit gewährt, und eine Videokamera, mit der sie sich selbst filmt. Als wolle sie der Nachwelt eine cinematographische Flaschenpost hinterlassen.

Auf dem Bildschirm flimmern die Bilder eines Videospiels, in dem die Schlacht um die japanische Insel Okinawa, die letzte Schlacht des II. Weltkriegs, nachgestellt wird. Jede Truppenbewegung, jeder Kamikaze-Flug und die Massensuizide der Japaner sind minutiös rekonstruiert. Lauras Bemühungen, der Schlacht wenigstens im Spiel einen anderen Verlauf zu geben, scheitern. Der Computer lehrt sie: Die Grausamkeit der Geschichte ist ihre Unabänderlichkeit.

Aus den Archiven tauchen verschollene Bilder auf: Japanische Frauen, die sich von den Klippen Okinawas in den Tod stürzen; ein GI im Gespräch mit einem Militärarzt, der mit Strenge und Penetranz versucht, dessen Erinnerungsvermögen wiederherzustellen, da er sich nach der Schlacht gegen die Japaner nicht einmal mehr an seinen Namen erinnert. Dazu Sätze aus der amerikanischen Kriegspropaganda: „Jetzt wissen wir, was für Tiere die Japaner sind.“

Zu Lauras Reflexionen über die Dialektik von Erinnerung und Vergessen und ihren historischen Spekulationen tritt eine Stimme aus dem Off. Es ist Chris (Marker?), der in seiner körperlichen Abwesenheit als Lauras imaginierter Tagebuchdialogpartner auftritt. Er begibt sich auf die Reise nach dem heutigen Okinawa, beobachtet den Alltag der Menschen, begegnet Überlebenden der Katastrophe und läßt sich von ihnen über die damaligen Ereignisse berichten.

Der französische Fotograf, Schriftsteller und Regisseur Chris Marker, der als Filmessayist bezeichnet wird, erweist sich auch in seinem neuesten Film Level 5, der nach eigener Aussage auch sein letzter ist, einmal mehr als Genie der Montage. Fiktion und Dokumentation, Sprache und Bild treten gleichberechtigt nebeneinander auf und bilden ein enges Geflecht von Spiel und Seriosität. Dazu benutzt er alle Mittel der Visualisierung, von der Fotografie über Video bis zum Computerspiel, und zeigt auf eindrucksvolle Weise, wie sich die Dinge mit den sie darstellenden Medien verändern.

Joachim Dicks

heute, 21.15 Uhr, Metropolis