Mit Leichtigkeit gegen das System

Die Studenten sind selbst am meisten davon überrascht, daß immer mehr von ihnen auf die Straße gehen. Der Marsch auf Bonn, Höhepunkt der bisherigen Demonstrationen, führt im Hofgarten 40.000 Studenten zusammen  ■ Aus Bonn Ariel Hauptmeier

Kurz nach elf Uhr treffen die ersten Sonderzüge am Bonner Hauptbahnhof ein. Weil nicht genügend Straßenbahnen bereitstehen, um die Studenten zum Treffpunkt Josefshöhe zu bringen, ziehen die ersten zu Fuß los. Die Kolonne, die sich über mehrere Kilometer erstreckt, legt den Verkehr in der Bonner Nordstadt lahm. Auch von außerhalb kommende Busse mit weiteren Demonstranten bleiben im Stau stecken. Erst nach Stunden löst sich das Chaos auf.

Pünktlich um zwölf Uhr beginnt eine erste Kundgebung auf der Josefshöhe. Shabnam Makkinejad, Pädagogikstudentin in Gießen, klettert als erste auf die Ladefläche eines Kleintransporters, der umringt ist von Dutzenden Kameramännern. Sie war dabei, als eine Vollversammlung in Gießen am 29. Oktober den Streik beschloß und so die mittlerweile bundesweit angelaufene Protestwelle an den Universitäten auslöste. Shabnam hat sich ein blaues „T“ ins Gesicht gemalt und trägt einen roten Stern am Revers ihres Mantels. „Vielleicht verlieren wir ein Semester“, ruft sie von der Ladefläche, „aber wir können so viel gewinnen.“

Der Protestzug formiert sich, bewegt sich aber lange nicht von der Stelle. Ein „internationaler Block“ aus Autonomen und Antifaschisten hat sich an die Spitze gesetzt und fordert in Sprechchören „internationale Solidarität“. Studenten mit Ordnerbinden haben die Straße blockiert, um zu verhindern, daß der schwarze Block vorneweg marschiert und so das Bild der Demonstration prägt. Stockend geht es schließlich voran. Nach und nach bringen die Ordner Studenten nach vorn, die Parolen wie „Ausbildung statt Bildungsaus“ und „Bildung light – nicht gescheit“ auf ihre Transparente gemalt haben. Nach und nach verschwinden die drei großen schwarz-roten Fahnen hinter den Spruchbändern. Schließlich gelingt es, ein straßenbreites Laken an die Spitze des Zuges zu setzen: „Bildung ist die Zukunft unserer Gesellschaft“ steht darauf.

Daß Bildung die Zukunft unserer Gesellschaft ist, glauben auch Klaus Neffgen (25) und Carola Hämmerling (22). Zusammen mit 15 anderen aus Wiesbaden sind sie mit dem Fahrrad nach Bonn gekommen, um „gegen Bildungsabbau“ zu demonstrieren. Mit roten Wangen stehen sie im eisigen Wind, hinter sich ihre Fahrräder mit roten Satteltaschen, und schütteln den Kopf über die Forderungen nach internationaler Solidarität.

„Uns ist klar, daß überall gespart werden muß“, sagt Klaus, „aber Bildung ist der einzige Rohstoff in unserem Land. Es darf nicht weiter gekürzt werden.“ Etwas weiter vorn marschiert Fabian Metzner (26) vom Bonner Asta und beschwert sich über die zu kurzen Öffnungszeiten der Ethnologie-Bibliothek. Er glaubt, daß Bildungsproblem sei ein Verteilungsproblem: „Uns wird so viel weggenommen, wie wir uns wegnehmen lassen.“

Fabian studiert im ersten Semster, genau wie viele andere hier im Zug. Auch langjährige Aktivisten überrascht die plötzliche Begeisterung, mit der gestreikt wird, die Leichtigkeit, mit der sich Freiwillige finden. 300 Ordner wurden in Bonn am Mittwoch abend gesucht. 300 junge Studenten fanden sich sofort.

Als am frühen Morgen über Bonn ein grauer, stürmischer Tag heraufzog, waren im Asta-Büro schon alle auf den Beinen und rannten durch die mit Aktenschränken vollgestellten Büroräume. Trotz aller Hektik ist der Ton freundlich. „Gregor, weißt du was von einer Abseil-Aktion?“ Nein, davon weiß der hochschulpolitische Referent nichts, dafür telefoniert er jetzt mit seinem Handy den Radfahrern hinterher, die am Vortag in Berlin gestartet sind. Seit einer Woche, sagt er, ist er täglich 18 bis 20 Stunden auf den Beinen. Simone (27) ist in der grünen Hochschulgruppe aktiv. Sie fasziniert die Eigendymanik, die der Protest mittlerweile bekommen hat. Als sie im Mai einen „Hochschul-Aktionstag“ organisierten, kamen nur einige hundert Studenten. Zur Vollversammlung vor einer Woche kamen 2.000. Warum, weiß niemand. „Inhaltlich kann man es nicht erklären. Plötzlich kam der Stein ins Rollen. Gerade auch, weil sich viele Erstsemester beteiligt haben.“

Nico (20) ist einer von ihnen. Seit fünf Wochen studiert er in Bonn Biologie. Er trägt neue Jeans und einen modischen Haarschnitt, weiß nichts über Hochschulpolitik, glaubt aber, daß der Fehler im System begründet liegt: „Die unterschiedlichen Gruppen werden gegeneinander ausgespielt. Dieses Konkurrenzdenken macht sich auch in den Seminaren bemerkbar.“

Kurz vor halb vier ist der Hofgarten vor der Universität schwarz von Menschen. 40.000 Studenten haben sich versammelt. Unter den Rednern ist kein einziger Politiker. Für die Umarmungen der letzten Tage von Politikern aller Parteien haben die meisten nur Hohn und Spott übrig. „Die können uns mal“, ruft ein Student. „Jetzt sind erst mal wir am Zug.“