Experten geben den Ball zurück

■ SPD und Grüne in NRW können sich nicht mehr hinter ihren Lieblingsgutachten zu Garzweiler verstecken. Ein DIW-Experte: Studien können politische Entscheidungen nicht ersetzen

Düsseldorf (taz) – Beim Gutachterstreit über die Notwendigkeit des geplanten Braunkohletagebaus Garzweiler II hat auch die gestrige Anhörung im Düsseldorfer Landtag kleine Klarheit gebracht. Der Ball liegt nun wieder bei den rot-grünen Koalitionären, die über das Projekt heftig zerstritten sind. Durch die „prognostische Ebene“, das machte Hans-Joachim Ziesing vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) den Politikern im überfüllten Saal des Düsseldorfer Landtags unmißverständlich klar, könne die politische Entscheidung „nicht ersetzt“ werden. Wie mit dem Projekt weiter „verfahren werden soll“, so Ziesing wörtlich, „bleibt eine Frage der politischen Bewertung“.

Im Kern ging es bei der gestrigen Anhörung um die Frage, ob der Aufschluß der auf 48 Quadratkilometer geplanten Grube am Niederrhein aus energiewirtschaftlichen Gründen zwingend ist. Die Antwort darauf ist von höchster politischer Brisanz. Nach dem nordrhein-westfälischen Landesplanungsgesetz darf der Aufschluß nur dann erfolgen, wenn es eine „energiepolitische Erfordernis“ für das Projekt gibt. Ansonsten, so sieht es das NRW-Planungsrecht vor, seien die massiven Eingriffe zu Lasten der Natur und der im Abbaugebiet wohnenden Menschen nicht zu rechtfertigen.

Wieviel Strom aus welchem Energieträger tatsächlich im Jahr 2005 in Deutschland gebraucht und nachgefragt wird, ist unter den drei gefragten Forschungsinstituten, Prognos, DIW und Wuppertal-Institut, heftig umstritten – und natürlich auch eine Folge jetziger politischer Entscheidungen. Anfang September hatte das Wuppertaler Klimainstitut mit seiner Studie für Furore gesorgt: Die Stromversorgung in Deutschland könne auch ohne Garzweiler II „langfristig gesichert“ werden.

An dieser Aussage hielt Peter Hennicke vom Wuppertaler Institut auch gestern fest. Als einen Anhaltspunkt nannte Hennicke die Entwicklung des Stromverbrauchs, der schon in den vergangenen Jahren niedriger ausgefallen sei als bei der ursprünglichen Genehmigung von der Baseler Prognos AG unterstellt. Außerdem komme die Braunkohle durch die Öffnung des Strommarktes für europäische Anbieter ab 1999 zusätzlich unter Druck. Wenn die deutsche Politik die Klimavereinbarungen ernst nähme, habe Garzweiler II ohnehin „keine Chance“.

Während die Wuppertaler Forscher bei ihrem Szenario bis zum Jahr 2030 ein Wirtschaftswachstum von 1,6 Prozent pro Jahr unterstellen, baut die Prognos AG, die Garzweiler II für energiewirtschaftlich notwendig hält, ihre Stromverbrauchsrechnung auf ein jährliches Wirtschaftswachstum von 2,2 Prozent bis zum Jahr 2010 aus. Die von den Wuppertalern angenommene niedrigere Wachstumsrate, so Konrad Eckerle von Prognos, „leuchtet uns nicht ein“. Anders der DIW-Forscher Ziesing: Zwar liege die Erwartung der Wuppertaler am „unteren Rand“, doch sie sei auch keine Prognose „jenseits von Gut und Böse“. Daß auch die Prognos AG selbst inzwischen von einem geringeren Stromverbrauch im Jahr 2010 ausgeht, räumte Eckerle gestern freimütig ein. Im Vergleich zu der Prognos-Prognose aus dem Jahr 1995 rechne man nun mit einem Minderbedarf von 15 Terrawattstunden pro Jahr. Das entspräche rund zwei Dritteln der jährlichen Stromerzeugung aus Garzweiler II. Die größte Zustimmung im Saal erntete am Ende der Berliner Ziesing mit seinem Fazit: „Wir wissen einfach nicht, was passiert.“ In seiner schriftlichen Stellungnahme kommt das DIW zu dem Schluß, daß die Zweifel an der ursprünglich unterstellten Stromnachfrage „berechtigt sind“. Doch gleichzeitig steht für das DIW fest, daß die Wuppertaler Studie „noch nicht als Nachweis für die Verzichtbarkeit“ von Garzweiler II angesehen werden könne.

Einig waren sich die Forscher über ihre Grenzen: „In den Prognosen haben wir uns schon alle kräftig geirrt“, gab Hennicke zu. Die Politiker müssen nun selbst entscheiden, ob sie den Tagebau verantworten wollen oder nicht.