Juden oder Freimaurer sollen's gewesen sein

■ Die Umbettungskommission sieht sich mit wirren Anfragen rechter Kreise konfrontiert

„In dieser selben Nacht wurde Balthasar von seinen Sklaven erschlagen.“ Diesen Satz des deutschen Dichters Heinrich Heine hatte – voller Fehler – eine unbekannte Hand an die Wand jenes Zimmers geschmiert, in dem die Romanow-Familie ihren blutigen Tod fand. Gesehen haben wollen ihn jedenfalls Angehörige der weißen Truppen, die die Bolschewiken kurz nach der Untat in Jekaterinburg ablösten. Sie nahmen auch noch unerklärliche Runen an den Fensterbänken wahr. Möglicherweise Freimaurer-Zeichen?

Auf diese Zeugnisse stützt sich jetzt der neunte von zehn Punkten in einer offiziellen Anfrage der russisch-orthodoxen Kirche an die „Kommission zur Umbettung der Gebeine des letzten russischen Imperators und seiner Familie“. Die Kommission wird darum ersucht, „zu beweisen oder zu widerlegen, daß es sich hier um einen Ritualmord handelt“.

Daß der eigentlich abgeschlossene Fall der imperialen Gebeine überhaupt noch einmal aufgerollt wird, ist dem Heiligen Synod der Kirche zu verdanken. Das Gremium hat Grund, bei der Identifizierung auf Sorgfalt zu achten. Es wird nämlich bei Anbruch des neuen Jahrtausends dank großer Nachfrage nicht umhinkönnen, Zar Nikolaus und seine Familie als Märtyrer heiligzusprechen. Aber was hat damit – so fragen sich Beobachter – der Punkt Nr. 9 zu tun?

Daß sich Juden und Freimaurer gegen den russischen Staat und seine Herrscher verschworen haben, gehörte schon im 19. Jahrhundert zu den Lieblingsmythen der russischen Rechten. Ebenso die bekannte Sage, Juden schlachteten bisweilen rituell Christen, um deren Blut zeremoniell zu nutzen. Seit zehn Jahren treibt in Rußland eine Literatur giftige Blüten, die auch den Mord an der Zarenfamilie in diesem Lichte interpretiert. Deren Heiligsprechung wird am glühendsten von nationalistischen und sogenannten volksmonarchistischen Grüppchen befürwortet, die diesen Schund produzieren. Ihr Einfluß reicht bis in die demokratische Presse. Dort werden die an der Genanalyse der Gebeine beteiligten westlichen Spezialisten als Agenten einer internationalen Verschwörung verdächtigt, die von den wahren Umständen des Todes der Romanows nur ablenken.

„Die Kirche ist besorgt“, erklärt Metropolit Juvenali, Repräsentant der Kirche in der Kommission. „Der Akt des Begräbnisses der imperialen Familie sollte nicht in eine Welle antisemitischer Kundgebungen ausarten.“ Heute drängen fundamentalistische Strömungen die russisch-orthodoxe Kirche immer stärker nach rechts. Antisemitische Verschwörungstheorien gehören zum Glaubens-Abc ihres rechten Flügels. Deshalb verzichtet die Kirche wohl auch auf die einzig wirksame Gegenmaßnahme: nämlich sich an der Schaffung eines gesellschaftlichen Klimas zu beteiligen, das solchen Theorien den Boden entzieht.