Im Streit um die Umbettung der Gebeine der Zarenfamilie zeichnet sich ein Kompromiß ab. Ein Teil der Skelettmasse soll nach Moskau, ein anderer bleibt in Jekaterinburg. Das Argument, die Knochen seien für einen Transport zu morsch, ist noch fadenscheiniger als die kaiserlichen Gebeine. Es geht um handfeste politische Interessen. Aus Moskau Barbara Kerneck

Toter Zar in Geiselhaft

I stuck around St. Petersberg

When I saw it was a time for a

change

Killed the Czar and his ministers

Anastasia screamed in vain

(Jagger/Richards)

Morsche Knochen waren in jüngster Zeit Anlaß für einen Streit zwischen der Regierung Jelzin und einem Lokalfürsten im Ural. Gegenstand des Zwistes, der in einen Verfassungskonflikt zwischen der Russischen Föderation und einem ihrer Subjekte auszuarten drohte, sind die sterblichen Reste von neun Menschen. Eine Kommission beim russischen Präsidenten hält es zu 99 Prozent für wahrscheinlich, daß es sich um die Gebeine des letzten Zaren, Nikolaus II., seiner Frau Alexandra, von dreien ihrer Töchter und vier Bediensteten handelt. Sie wurden als Gefangene in Jekaterinburg im Juli 1918 von den Bolschewiken erschossen.

Eduard Rossel, Gouverneur von Jekaterinburg, hielt die Knochen bislang hartnäckig in einer Leichenhalle unter Verschluß. Einen Laborzug mit Vertretern der russischen Generalstaatsanwaltschaft und Wissenschaftlern, der diese Woche in der Uralstadt eintraf, um die Gebeine für eine letzte Expertise nach Moskau heimzuführen, schickte der Gouverneur vorerst aufs Abstellgleis.

Die festgefahrene Auseinandersetzung zwischen der Regierung in Moskau und dem Jekaterinburger Gouverneur nahm nun am Donnerstag eine unverhoffte Wendung. Man kam zu einem Kompromiß, und der ist dem Eingreifen des Patriarchen der russisch-orthodoxen Kirche, Alexi II., zu verdanken. Dem zufolge werden nun zwar Gebeine nach Moskau geschickt – aber eben nicht alle. Das Prinzip, nach dem man sie aufzuteilen gedenkt, blieb im dunkeln. Fest steht: Ein Teil der zaristischen Gesamt-Skelettmasse wird in Jekaterinburg weiter als Geisel gehalten. Mit deren Hilfe kann Rossel Druck auf Moskau ausüben.

Die adligen Gebeine wurden erstmals 1979 von Jekaterinburger Heimatkundlern entdeckt, aber erst 1991, nach der Perestroika, erblickten sie das Licht der Öffentlichkeit. Daß es sich um die sterblichen Reste des letzten russischen Zaren, Nikolaus II., und seiner Familie handelt, haben neben traditionellen Analysen der Gebisse und der Vergleiche der Schädel mit Fotografien auch DNS-Daktyloskopien ergeben. Sie wurden anhand einzelner Partikel in Großbritannien, Kanada und den USA vorgenommen. Als Vergleichsmaterial mußte die Erbmasse des englischen Königshauses herhalten, das mit dem russischen eng verwandt war. Es fehlen nur die Gebeine des Thronfolgers Alexis und der Großherzogin Maria, einer der vier Zarentöchter. Zeugenberichten zufolge wurden sie von den Tätern verbrannt. Einwandfrei identifizieren konnte man hingegen Prinzessin Anastasia.

Eine „Kommission zur Umbettung der Gebeine des letzten russischen Imperators und seiner Familie“ wird vom ersten Vizepremier Boris Nemzow geleitet. Sie wirkt nur beratend, denn zu entscheiden hat in dieser Angelegenheit einzig und allein Boris Jelzin. Er war es übrigens, der 1979 als Parteisekretär des heutigen Jekaterinburg das ehemalige Haus des Ingenieurs Ipatjew über Nacht dem Erdboden gleichmachen ließ, in dem die Familie ermordet wurde. An dessen Stelle steht heute eine Kapelle – nach Rossels Vorstellungen nur eine Vorläuferin einer gewaltigen Grabeskathedrale.

Rossels letztes Argument – die hoheitlichen Knochen seien für einen Transport zu morsch – erwies sich angesichts der nun erreichten Kompromißlösung noch fadenscheiniger als die kaiserlichen Gebeine. Tatsächlich geht es hier weniger um historische Gerechtigkeit als um handfeste politische Interessen der drei Städte Jekaterinburg, Moskau und St. Petersburg – und: um das lukrative Tourismusgeschäft mit einer zukünftigen Zaren-Grabstätte.

Schon heißt es, der Moskauer Oberbürgermeister Luschkow verhandele mit den Nachfahren der Romanows über eine Bestattung der Gebeine in der frisch rekonstruierten hauptstädtischen Christus-Erlöser-Kathedrale. Vornehm schweigt bisher der St. Petersburger Gouverneur Wladimir Jakowlew. Er hat immer noch die besten Karten, denn in der Peter- Paul-Festung befand sich in den letzten Jahrhunderten die Erbgruft der Romanows.

Rossel bekam in dieser Woche Unterstützung von einem örtlichen Richter. Der untersagte die Überführung der Gebeine mit dem Hinweis auf Leichenschändung. Obwohl dieser Erlaß kaum haltbar ist, braucht seine Aufhebung durch das Oberste Gericht der Föderation seine Zeit. Inzwischen kann Rossel von Moskau noch ein paar finanzpolitische Zugeständnisse ertrotzen. Und der Sonderzug bleibt auf dem Abstellgleis.