■ Beharrlich verwechselt man in Deutschland den historischen Vergleich zweier totalitärer Systeme mit deren Gleichsetzung
: „Schwarzbuch des Kommunismus“

„Die Nazilager waren kein Zerrbild der kapitalistischen Gesellschaft, sie waren ein recht getreuer Spiegel der stalinistischen Gesellschaft“, schrieb Jorge Semprún 1980 in „Was für ein schöner Sonntag“, seiner autobiographischen Auseinandersetzung mit Buchenwald. Anläßlich des deutschen Historikerstreits 1986 hielt er der deutschen Linken – in Abwandlung des berühmten Horkheimer-Satzes „wer vom Faschismus redet, darf vom Kapitalismus nicht schweigen“ – entgegen: „Wer vom Stalinismus nicht reden will, der sollte vom Faschismus schweigen.“ Semprún attackierte damit einen weitreichenden Konsens der Linken: nämlich mit dem beschwörenden Rekurs auf die Einmaligkeit von Auschwitz jeglichen Versuch zu unterbinden, Nationalsozialismus und Stalinismus, rechten und linken Totalitarismus zu vergleichen.

Der Historiker Ernst Nolte entfachte den damaligen Streit mit seiner These, Hitlers Rassenmord sei eine Folge des Stalinschen Klassenmords gewesen, d.h. die „linken“ Verbrechen seien den „rechten“ ursächlich vorausgegangen. Nolte konnte sich mit dieser Relativierung der nationalsozialistischen Verbrechen zu Recht nicht durchsetzen. Ebensowenig ließen sich jedoch die Sieger des Historikerstreits von Semprúns Einwurf aus der Ruhe bringen. Bis heute ist die Ausblendung beziehungsweise Verharmlosung der Verbrechen, die im Namen des Kommunismus begangen wurden, identitätsstiftende Klammer im linken Diskurs. Und zwar in der Figur des Antifaschismus. Daran haben der Zusammenbruch des Kommunismus und die Öffnung der Archive, die heute den Blick in seine Abgründe ermöglichen, wenig geändert.

Der französische Historikerstreit begann 1995 mit François Furets Werk „Das Ende der Illusion. Der Kommunismus im 20. Jahrhundert“. Während das Buch in Paris eine rege Debatte einleitete, ist man ihm hierzulande mit größter Skepsis, wenn nicht gar Abwehr begegnet. Der in diesem Sommer verstorbene Historiker ging in seinem Werk der erstaunlich lange anhaltenden Anziehungskraft des Kommunismus nach: „Nachdem der Faschismus als ein Produkt der kapitalistischen Herrschaft im Endstadium erklärt wurde, war der einzig wahre antifaschistische Kämpfer der antikapitalistische Revolutionär, also der militante Kommunist. Der Antifaschismus verlieh der kommunistischen Idee, strategisch gesehen und in der Vorstellung der Zeitgenossen, eine neue Legitimität.“

Das gerade in Frankreich erschienene „Schwarzbuch des Kommunismus“ hatte Furet noch auf den Weg gebracht. Es zieht erstmalig Bilanz über die Verbrechen, die im Namen des Kommunismus begangen wurden und liefert das empirische Material für die begonnene Debatte: rund 100 Millionen Menschen wurden umgebracht. An Furets Stelle hat nun Stéphane Courtois das provokative Vorwort geschrieben, in dem er den „Rassen-Genozid“ Hitlers mit dem „Klassen-Genozid“ Stalins vergleicht. Aber er hütet sich vor einer Gleichsetzung.

Die Protagonisten der französischen Historikerdebatte sind keine Rechtsintellektuellen, sondern ehemalige Kommunisten, Maoisten oder Trotzkisten, die mit ihrer politischen Vergangenheit reflexiv gebrochen haben: 1956 anläßlich der sowjetischen Niederschlagung der ungarischen Revolution, 1968 nach dem Einmarsch der Truppen des Warschauer Pakts in Prag oder 1974 nach Erscheinen von Solschenizyns „Archipel Gulag“.

Mitte der 70er Jahre war dieser sogenannte Gulag-Schock Anlaß für die Herausbildung einer öffentlich vernehmbaren, wenn auch minoritären „front antitotalitair“ in Frankreich. Gemeinsamer Bezugspunkt war nicht nur die Auseinandersetzung mit der KPF und der Bruch mit einem jakobinischen Revolutionsverständnis, das in der Sowjetunion die zeitgenössische Fortsetzung des universalen revolutionären Projektes sah, sondern ebenso das Engagement für die Bürgerbewegungen und Dissidenten in Osteuropa und der Sowjetunion. Die Auseinandersetzung mit dem Stalinismus war verbunden mit der Kritik der eigenen politischen Vergangenheit. Dieser Bruch war konstitutiv für den antitotalitären Blickwinkel und die aufmerksame Analyse der Entwicklungen in den realsozialistischen Ländern und später des Krieges im ehemaligen Jugoslawien.

Von deutscher Seite wurden die französischen antitotalitären Intellektuellen des Renegatentums bezichtigt oder als „Bistro-Maoisten“ verunglimpft. Eine der französischen vergleichbaren Debatte angesichts des „Gulag-Schocks“ hat in Deutschland nie stattgefunden. 1975 schrieb Raymond Aron: „Wenn Solschenizyn unbequem für uns ist und uns sogar empört, dann deshalb, weil er die westlichen Intellektuellen an ihrem schwächsten Punkt, bei ihren Lügen trifft: ,Wenn ihr den großen Gulag akzeptiert‘, so fragt er sie, ,warum empört ihr euch dann in so tugendhafter Weise über die kleinen? Lager bleiben Lager, ganz gleich, ob sie braun oder rot sind.‘ Seit über fünfzig Jahren weigern sich die Intellektuellen des Westens, diese Frage zu hören. Sie haben ein für alle Mal entschieden, daß es die ,gute‘ und die ,böse‘ Seite gibt, wobei die Konzentrationslager der einen durch die Heiligkeit der Sache verklärt werden, während die auf der anderen Seite eben Konzentrationslager sind.“

Einige deutsche Reaktionen auf den jüngsten französischen Historikerstreit scheinen diesem Wiederholungszwang zu folgen. Stéphane Courtois wird wie vor ihm François Furet in die Nähe von Ernst Nolte gezerrt. Beharrlich verwechselt man den historischen Vergleich zweier totalitärer Systeme – der notwendig ist, um ihre jeweilige Spezifität und Einmaligkeit herauszudestillieren – mit deren Gleichsetzung. Für eine auf die Singularität nationalsozialistischer Verbrechen mühsam aufgebaute negative deutsche Identität hat das „absolut Böse“ nur einen ausschließlichen Ort: Auschwitz. Eine Identität, die ihre eigene Brüchigkeit ahnt und deshalb diese um so vehementer verteidigt.

Erst wenn der Antifaschismus nicht mehr als Legitimationsfigur das Schweigen über die Verbrechen des Kommunismus perpetuiert, kann sich der Blick auf beide Totalitarismen öffnen. Und dies hätte gerade der politische Diskurs in Deutschland, das beide totalitäre Erfahrungen des 20. Jahrhunderts durchlaufen hat, bitter nötig. Denn in Teilen der deutschen Linken mangelt es bis heute an einem generalisierten antitotalitären Impuls, der auch den Umgang mit der zweiten deutschen Diktatur von Denkverboten befreien könnte. Ulrike Ackermann