Eine kleine Sensation

■ NDR-Sinfonieorchester spielt unter der Leitung von Kent Nagano in deutscher Erstaufführung die Urfassung von Mahlers „Klagenden Liedes“

Für die – aus Komponistensicht – oft sehr leidvolle Geschichte der Werkretuschen gibt es in der Regel zwei Gründe. Zum einen kommt es zu zum Teil jahrzehntelangen Verbesserungen, weil die Komponisten innerlich mit dem Werk nicht am Ende waren. Berühmte Beispiele dafür sind Mozart mit seinem „Idomeneo“und Bach mit seiner „Matthäus-Passion“. Anders ist es bei Änderungen der Fassungen, wenn Zwänge und Druck von außen kommen. Daß Bernd Alois Zimmermann die Urfassung seiner Oper „Die Soldaten“1965 vernichtete, weil man sie für unspielbar hielt, ist nichts weniger als eine künstlerische Katastrophe. Bekannt sind ständige Veränderungsgeschichten der Brucknerschen Sinfoniefassungen, mit denen der Komponist Publikums- und Dirigentenforderungen entgegenkam.

Eine kleine Sensation konnte jetzt in der Glocke mit dem NDR-Sinfonieorchester unter der Leitung von Kent Nagano präsentiert werden: die deutsche Erstaufführung der Urfassung des „Klagenden Liedes“(1878/80) von Gustav Mahler. An dieser Werkgeschichte wird exemplarisch klar, wie es um das Verhältnis von genialem Einfall und Reaktion der Umwelt steht. Selbstbewußt nannte der achtzehnjährige Komponist, der gerade drei Jahre Konservatoriumsausbildung hinter sich hatte, „Das klagende Lied“sein op. 1 und eckte prompt überall an. Als Mahler dann 1891 die Dirigentenstelle an der Hamburger Oper erhielt, korrigierte er die Urfassung für eine Aufführung vollkommen. Er strich den ganzen ersten Akt, das „Waldmärchen“, und machte in den anderen beiden Akten entscheidende ästhetische Retuschen. Er eliminierte das Fernorchester in einem anderen Raum, schrieb Instrumentationen um, und er strich massenweise Ausdrucksangaben wie „Pause lang und schauerlich“oder auch „mit höllischer Wildheit“. Kurz: er glättete. Für den Druck 1898 holte er dann einiges – zum Beispiel das Fernorchester – wieder zurück, und in dieser Fassung fand unter seiner Leitung 1901, also 21 Jahre nach der Komposition, die Uraufführung statt.

Das explosive Wuchern, die grenzenlose, auch rücksichtslose Einfallskraft, das Infragestellen und Hintersichlassen jeglicher ästhetischer Normen zeigt die wahrlich monumentale Urfassung des „Märchens in drei Abteilungen“, für die man nach dieser glänzenden Aufführung eine begeisterte Lanze schlagen möchte.

Der junge Mahler scheint sich um nichts zu scheren, als er die Geschichte um die stolze Königin dichtet (nach Grimm und Bechstein) und vertont, die als Bedingung ihrer Verehelichung, vom künftigen Bräutigam eine seltene Blume verlangt. Um dieser Blume willen bringt ein Bruder den anderen um. Verbrechen und Katastrophe deutet Mahler als gesellschaftliche. Die wuchtige orchestrale Wirkung des Zusammenbrechens der Mauern bei der Uraufführung war immerhin so, daß der damalige Kritiker meinte, dagegen sei Wagners Götterdämmerung ein „Lokalereignis“. „Das klagende Lied“für Soli, Chor und Orchester ist von allem etwas: Lied, Oratorium, Oper, Kantate, sinfonische Dichtung und eben alles das bewußt nicht.

Das große Orchester und der NDR-Chor (Einstudierung Werner Hagen) auf der Bühne, ein weiteres Orchester bei geöffneten Türen um einen Halbton versetzt im Foyer, die Solisten (Luba Orgoasova, Jadwiga Rappé, Kim Begley, Klaus Häger) auf der Bühne: Kent Nagano schiffte den Riesenappparat energisch und stilsicher durch das Werk, das in keiner Weise ein Frühwerk im negativen Sinne ist. Im Gegenteil.

Der besondere Klageton, die Ironie, die unnachahmlichen Orchesterfarben und dramaturgischen Zuspitzungen sind schon ohne Einschränkung echter Mahler. Die Aufführung endete zu Recht mit Ovationen.

Ute Schalz-Laurenze