Der Serienmörder von der Pariser Bastille

In Paris bringt ein Mann Frauen um. Die Opfer lassen ihn freiwillig in ihre Wohnung. Niemand weiß, warum  ■ Aus Paris Dorothea Hahn

Nur Elisabeth hat den Mörder von der Bastille wirklich gesehen. Als er sie im Juni 1995 erstechen wollte, gelang ihr die Flucht aus dem Fenster ihrer Pariser Wohnung. Vier andere junge Frauen wurden in den vergangenen Jahren von dem Unbekannten vergewaltigt und ermordet. Bei mindestens drei weiteren Frauenmorden in Paris schließt die Polizei einen Zusammenhang nicht aus.

Die meisten Morde geschahen während der vergangenen drei Jahre in den engen Gassen rund um die Bastille, im 11. Pariser Arrondissement. Einige aber auch in den weiter östlich gelegenen 19. und 12. Arrondissements. Der letzte liegt erst zwei Wochen zurück. Die Opfer waren zwischen 19 und 32 Jahren alt, braunhaarig oder blond, alleinstehend oder liiert, studierend oder berufstätig. In jedem Fall schien der Mörder ihren Lebenswandel zu kennen. Nirgends brach er eine Tür auf. Nirgends fiel den Nachbarn irgend etwas auf. Überall allerdings hinterließ er eine identische Spur: Er zerschnitt die Kleidung der Toten.

Zwar kennt die Polizei die DNA und damit das genetische Geheimnis des Täters. Aber die Angaben über sein Äußeres sind denkbar vage. Es ist nur bekannt, daß er zwischen 1,75 und 1,80 Meter groß und rund 30 Jahre alt ist, ein quadratisches Gesicht hat, sympathisch wirkt, nordafrikanisch aussieht und akzentfrei Französisch spricht.

Seine einzige Überlebende, die kurz nach dem Verbrechen einen schweren Unfall hatte und seither im Rollstuhl sitzt, erinnert sich außerdem daran, daß die zweite Zehe des Mörders länger als die große Zehe ist.

In Paris, wo es lange keinen Serienmörder mehr gegeben hat, haben die Nachrichten Panik ausgelöst. Rund um die Bastille ist der Serienmörder das Hauptthema. Junge Frauen gehen abends entweder gar nicht mehr vor die Türe, sind umgezogen oder lassen sich grundsätzlich nach Hause begleiteten. Viele haben sich Taschenmesser, Tränengassprays oder andere Werkzeuge zur Selbstverteidigung zugelegt.

Aber nicht nur in dem Dank seiner Bars und Diskos beliebten Quartier rund um die Bastille, sondern auch in allen anderen Pariser Stadtteilen bestimmt der Serienmörder die Gesprächsthemen der Frauen. Allerorten kursieren Gerüchte über seinen Beruf und seine Herkunft. Zahlreiche Pariserinnen wollen Einzelheiten über die bisherigen Morde wissen, als wären sie persönlich dabei gewesen oder hätten Einblick in geheime Dokumente der Polizei.

Die Ratschläge für den Ernstfall haben Hochkonjunktur. „Ruf erst bei der Télécom an, bevor du jemanden hereinläßt, der sich als Telefontechniker ausgibt“, rät eine Frau. „Durchsuche die Kleiderschränke, bevor du ins Bett gehst“, sagt eine andere. „Speicher Notfallnummern ins Telefon ein“, empfiehlt eine dritte.

Die Arbeiten der Ermittler, die in anderen Fällen, wie zuletzt beim tödlichen Unfall der Britin Diana Spencer, riesige Einsatzkommandos mobilisierten, beruhigen die Pariserinnen im Fall des Serienmörders nicht im geringsten. In den Monaten nach den ersten Verbrechen behandelte die Polizei die Affäre als „vertraulich“.

Der Mutter von Anne, die im Juli 1995 ermordet wurde, schärften sie ein, nicht zur Presse zu gehen. Erst vor einer Woche wurde ein – zugegeben kaum aussagekräftiges – Phantombild veröffentlicht. Heute macht die Mutter der Toten sich selbst und der Pariser Polizei schwere Vorwürfe: „Ich hätte früher an die Öffentlichkeit gehen sollen. Dann würden heute mindestens zwei junge Frauen noch leben.“

Nach Ansicht von psychiatrischen Experten ist das freilich fragwürdig. Michel Dubec, Jurist am Pariser Berufungsgericht, glaubt, daß der Serienmörder ein völlig normales Leben führt und sich während langer Phasen völlig still verhalten kann. Nach den bisherigen Informationen schätzt er ihn als „intelligent“, „systematisch“ und „pervers“ ein. „Für die Ermittler macht das die Arbeit extrem schwierig“, sagt Dubec.