"Ein bedrückendes Verfahren für mich"

■ Jörg Hillinger, der Chefankläger im heute beginnenden Natalie-Astner-Prozeß, zu einem der spektakulärsten Strafprozesse des Jahres

taz: Herr Hillinger, Sie vertreten als Chef der Augsburger Staatsanwaltschaft die Anklage gegen den mutmaßlichen Mörder der siebenjährigen Natalie Astner aus Epfach. Ein Sexualdelikt, das zu heftigen öffentlichen Reaktionen und letztlich wohl auch maßgeblich zu einer Strafrechtsänderung beigetragen hat. Ist das Verfahren juristisch klar?

Jörg Hillinger: Dem Angeklagten wird vorgeworfen, das Kind Natalie sexuell mißbraucht und es anschließend getötet zu haben. Es ist nicht das schwierigste, aber wahrscheinlich bedrückendste Verfahren, weil hier ein Zufallsopfer einem Täter in die Hände gefallen ist – und weil natürlich auf diesem Verfahren ein enormer Druck der Öffentlichkeit lastet. Die öffentliche Diskussion hat dazu geführt, daß sich Bürgerinitiativen gegründet haben, die letztendlich auch erreicht haben, daß viel im Strafrecht in Fluß gekommen ist.

Nämlich?

Daß der Opfergedanke immer stärker in den Vordergrund gerückt wird. Vor einigen Jahren war das noch anders. Da hat man immer nur den Täter vor Augen gehabt.

Was unterscheidet dieses Verfahren von anderen Prozessen wegen sexuellen Mißbrauchs?

Es weist gegenüber anderen Verfahren erhebliche Unterschiede auf. Üblicherweise spielt sich der sexuelle Mißbrauch in einer engen Verbindung ab. Hier war das Opfer ein Kind, das sich auf dem Weg zur Schule befunden hatte, das den Täter überhaupt nicht kannte. Es hätte auch jedes andere Kind treffen können.

Ein eher seltener Fall, wenn man die Vielzahl der Mißbrauchsdelikte anschaut.

Man muß bei sexuellem Mißbrauch differenzieren. Es gibt ja auch Fälle, wo Deutsche ins Ausland fahren, um sich an Kindern zu vergehen, also Kinderprostitution und ähnliches. Aber die sexuellen Mißbrauchsfälle hierzulande spielen meistens in einem Beziehungsgeflecht. Also, es gibt halt den lieben Onkel, den man nun mal kennt, oder es gibt Leute, die im Jugendbereich tätig sind und möglicherweise pädophile Neigungen haben. Daß hier ein Kind aufgegriffen, entführt und mißbraucht wurde, ist eigentlich ein statistisch verschwindender Prozentsatz. Das ist richtig. Solche Fälle wie bei Natalie kommen bei uns – zum Glück – nur fünf- bis sechsmal im Jahr vor, während wir doch insgesamt etwa 14.000 Fälle sexuellen Mißbrauchs zu verzeichnen haben.

Ist der Fall eindeutig?

Die zentrale Frage dieses Verfahrens ist nicht der Geschehensablauf. Wir haben das Geständnis und die objektiven Befunde, die am Tatort erhoben wurden. Die Kernfrage in diesem Verfahren ist die, ob der Täter zur Tatzeit vermindert schuldfähig war. Nach derzeit vorliegenden Gutachten spricht nicht sehr viel dafür, aber entscheidend wird sein, was die Gutachter in der Hauptverhandlung sagen.

Sie haben selbst den enormen Druck der Öffentlichkeit angesprochen. Alles, was in Ihrem Plädoyer und im Urteilsspruch unterhalb der Todesstrafe liegt, wird massiv kritisiert werden. Wie geht man denn als Staatsanwalt mit einem solchen Verfahren um? Kann man in einer solchen Stimmung überhaupt ordentlich zu Gericht sitzen?

Sicherlich ist der Druck der Öffentlichkeit enorm. Ich will mich natürlich nicht auf das Stammtischniveau gewisser Leute begeben, die – sagen wir es doch mal deutlich – zwischen „Kopf ab und Schwanz ab“ nicht differenzieren können. Das Strafrecht sieht eine ganze Reihe von Sanktionen vor. Es ist auch Aufgabe der Staatsanwaltschaft, dem Gericht bei der Entscheidung zu helfen, hier die richtige Sanktion zu finden. Ich habe auch keine Hemmungen, im Falle, daß eine verminderte Schuldfähigkeit auszuschließen ist, hier auf die höchstmögliche Strafe nach dem Gesetz zu erkennen. Das wäre „lebenslänglich“. Und ich würde mich auch nicht scheuen zu beantragen, daß ein solcher Täter in Sicherungsverwahrung geht. Das ist aber am Ende eines Prozesses zu entscheiden. Jetzt ist es erst einmal unsere Aufgabe, die Unruhe herauszunehmen. Mit falsch verstandenem Mitleid hat das jedoch nichts zu tun. Aufgabe des Gerichts ist es, ein gerechtes Urteil zu finden. Ein gerechtes Urteil kann „lebenslänglich“ genauso sein wie die Entscheidung – falls die Voraussetzungen vorliegen –, den Täter einer Therapie zuzuführen.

Sie sprachen die Sicherungsverwahrung an, die bislang nur bei zwei vorangegangenen Verurteilungen angeordnet werden kann. Nach dem neuen Strafrecht ist das anders. Kann denn dieses Strafrecht schon auf das jetzige Verfahren angewandt werden?

Das ist im Augenblick schwer zu sagen. Soweit Sie das neue Strafrecht angesprochen haben, muß man zum einen bedenken, daß noch gar nicht klar ist, ob das zum Zeitpunkt der Hauptverhandlung überhaupt schon in Kraft ist. Man muß auch bedenken, daß es zu den ehernen Grundsätzen des Verfassungsrechts gehört, daß Strafgesetze nicht rückwirkend zur Anwendung kommen können.

Was heißt das nun auf die Sicherungsverwahrung konkret bezogen? Daß diese unmöglich ist?

Bei den Maßregeln bezüglich der Besserung und Sicherung – und dazu gehört die Sicherungsverwahrung – wird entscheidend sein, was das neue Gesetz dazu sagt; ob diese Maßregeln also auch auf Altfälle angewandt werden müssen. Fehlt es im Gesetz an einer solchen Bestimmung, kann die neue Gesetzeslage angewandt werden.

Was würde mit dem Täter dann passieren?

Sicherungsverwahrung bedeutet, daß die Strafe voll verbüßt wird und dann der Verurteilte nach der verbüßten Freiheitsstrafe nicht in Freiheit kommt. Er bleibt in der Justizvollzugsanstalt, hat dann aber nicht mehr den Status eines Strafgefangenen, sondern den eines Sicherungsverwahrten. Das bedeutet, er bleibt hinter Schloß und Riegel. Nach gewisser Zeit, derzeit nach zehn Jahren, wird noch einmal überprüft, ob er auf freien Fuß gesetzt werden kann. Konkret würde das bei einem Urteil zu lebenslanger Freiheitsstrafe bedeuten, daß der Täter nach fünfundzwanzig Jahren wieder auf freien Fuß käme. Interview: Klaus Wittmann