Ex-Gestapo-Chef mit 91 vor Gericht?

■ Aus Mangel an Beweisen entging der frühere Chemnitzer Gestapo-Chef bisher einer Anklage. Jetzt sind neue Akten aufgetaucht

Berlin (taz) – Es war ein Radiobericht im vergangenen Jahr, der Kurt Schrimm von der Stuttgarter Staatsanwaltschaft aufhorchen ließ. Berichtet wurde über Aktenfunde in Polen, die möglicherweise Auskunft über die Tätigkeit des ehemaligen Gestapo-Chefs von Chemnitz, Johannes Thümmler, geben könnten. Material, das dort jahrzehntelang geschlummert hatte und erst nach dem Zusammenbruch des Ostblocks eingesehen werden konnte. Schrimm, für die Verfolgung von NS-Taten zuständig, reiste daraufhin selbst zweimal nach Polen. In Breslau, Kattowitz und Auschwitz sichtete er Todeslisten und Papiere der Gestapo. Darunter: Thümmlers Name. „Wir sind fündig geworden, Details kann ich aber nicht nennen“, erklärt Schrimm. Diesmal, so scheint es, hat die Stuttgarter Staatsanwaltschaft mehr in der Hand, um gegen den ehemaligen SS-Obersturmbannführer Anklage zu erheben.

Schon in den 60er Jahren hatte sie umfangreiche Ermittlungen geführt. Doch die Eröffnung eines Hauptverfahrens lehnte das Landgericht Ellwangen 1964 ab. Das vorliegende Beweismaterial sei nicht ausreichend, lautete die Begründung. Ein Beschluß, den das Oberlandesgericht Stuttgart schließlich 1970 bestätigte.

Damals wie heute beschäftigt die Staatsanwaltschaft vor allem Thümmlers Rolle als Vorsitzender eines Sondergerichts in der Baracke 11 des Konzentrationslagers Auschwitz. Nach Angaben von Schrimm steht der heute 91jährige im Verdacht, 1944/45 an der Vollstreckung von „mindestens 800 Todesurteilen, wahrscheinlich aber deutlich mehr“, beteiligt gewesen zu sein. Die Opfer wurden in der Regel sofort nach der Urteilsverkündung, wenige Meter von der Gerichtsbaracke entfernt, erschossen.

Thümmler hatte in der Nazizeit eine steile Karriere bei der Geheimen Staatspolizei gemacht. 1932 der NSDAP beigetreten, wurde der promovierte Jurist sieben Jahre später stellvertretender Gestapo-Chef von Dresden, ab März 1941 leitete er dann die Gestapo von Chemnitz. Zuletzt stand er von 1943 bis 1945 der Gestapo-Leitstelle von Kattowitz im damals besetzten Polen vor.

Ob gegen Thümmler Anklage wegen Mord oder Beihilfe zum Mord erhoben wird, ist offen. Zunächst einmal soll der Pensionär, der in Eriskirch am Bodensee lebt, von der Staatsanwaltschaft zur Sache gehört werden. Ob er sich darauf einläßt, steht dahin. Niemand sei gezwungen, einer persönlichen Vernehmung nachzukommen, so Schrimm.

Thümmler selbst hat unterdessen einen Anwalt beauftragt, seine Interessen wahrzunehmen. Dessen ungeachtet gehen die Ermittlungen weiter. In Kürze wird ein Beamter des Landeskriminalamtes Baden-Württemberg in Polen weitere Akten über Thümmlers Rolle während der NS-Zeit sichten. Außerdem ermittelt Schrimm gegen drei weitere mutmaßliche NS-Täter, einen 87jährigen und zwei 80jährige. Severin Weiland