Lafontaine gibt der SPD, was sie will

SPD-Chef Oskar Lafontaine begeistert den Parteitag. Er hält eine Grundsatzrede, die ganz nach dem sozialdemokratischen Durchschnittsgeschmack ist: Soziale Gerechtigkeit mit einem Schuß Anti-Schröder  ■ Aus Hannover Markus Franz

Ein gewichtiger Sozialdemokrat stand gerührt, klatschte und klatschte. „Ich kriege schon wieder eine Gänsehaut“, sagte er, „wie in Mannheim.“ Soeben hat SPD-Parteichef Oskar Lafontaine eine umjubelte und am Ende mit Standing ovations belohnte Rede beim Hannoveraner Parteitag gehalten. Er hat den Delegierten gegeben, wonach sie lechzten: eine emotionale, wertebestimmte Rede. Kaum einmal führte er das technokratisch anmutende SPD-Wort des Jahres im Munde – „Innovation“ –, sprach statt dessen von Mitmenschlichkeit, Solidarität, Gemeinsinn, Gerechtigkeit.

„Es gibt keine soziale Gerechtigkeit mehr in unserem Land“, hatte Lafontaine gerufen. Das Gerede über den Shareholder value, die Steigerung der Aktienwerte, zeige, daß sich die Gesellschaft geistig fehlentwickle. Ziel der Unternehmen müsse es sein, soziale Verantwortung zu tragen – für die Belegschaft und das ganze Land. Eine Gesellschaft, die zulasse, daß Jugendliche keinen Ausbildungsplatz haben, „ist keine humane Gesellschaft“. Beifallsumtost auch seine Worte zur Rente: „Die durchschnittliche Rente für Frauen beträgt 900 Mark. An diese Menschen denken wir. Ihnen sind wir als Sozialdemokraten verpflichtet. Es ist schamlos, eine Rente von 900 Mark kürzen zu wollen.“

Unablässig erinnerte Lafontaine daran, daß es mit der SPD als Regierungspartei keine sozialen Einschnitte geben werde. „Es gibt eine große Partei“, rief er, „die wie keine andere für soziale Gerechtigkeit steht: Wir sind die Partei, die ja sagt zu Kündigungsschutz. Ja zu Lohnfortzahlung im Krankheitsfall. Ja zu Arbeitslosengeld, das nicht gekürzt wird.“

„Man braucht diese Wertediskussion“, sagte ein Genosse hinterher erleichtert. Die Rede habe ihm gutgetan. „Wozu die ganze ehrenamtliche Arbeit, wenn nicht Werte dahinterstehen?“ Ein anderer lobte: „Das haben wir gebraucht, Orientierung und den Gefühls- Push, daß wir es schaffen können.“ Die bayerische Landesvorsitzende Renate Schmidt bedankte sich, daß Lafontaine dem Begriff soziale Gerechtigkeit wieder eine Bedeutung gegeben habe.

Noch vor wenigen Wochen beim Innovationskongreß in Dortmund hatte Lafontaine vom Blatt abgelesen, die Ermahnung seiner Getreuen im Ohr: „Halt dich bloß an das Manuskript.“ Die Auseinandersetzung mit Gerhard Schröder sollte vermieden werden. In Dortmund waren alle enttäuscht. Nachher wurde seine Rede als die eines Staatsmannes schöngeredet, der nicht polarisieren, sondern zusammenführen wolle. Emotionen damals? Fehlanzeige.

Die Medien berichteten kritisch, sprachen, wie Wolfgang Thierse gestern in seiner Eröffnungsrede erinnerte, von „dauerhafter Selbstverleugnung und abenteuerlichen Verrenkungen“. Nichts davon sei wahr, so Thierse. Er sehe die Kanzlerkandidatenfrage „mit beträchtlichem ironischen Behagen“. Jeder könne doch sehen, „wie vergnügt und einträchtig die beiden sind“.

War da der Wunsch der Vater des Gedanken? Beim Innovationskongreß hatte Schröder verräterisch von „meinem Wahlprogramm“ gesprochen. Diesmal kehrte Lafontaine den Spieß um und sagte zu den Zielen einer sozialdemokratischen Regierung: Das zweite Thema, dem „ich mich widmen werde...“.

Auch Schröder spendete in Hannover Lafontaine Szenenbeifall, auch er stand nach der Rede auf. Was hätte er anderes tun sollen? Aber seine Gesichtszüge wirkten verkrampft. Zu offensiv vertrat Lafontaine Ansichten, denen Schröder zuvor eine Absage erteilt hatte. Zur internationalen Harmonisierung der Steuern und Abgaben, die Lafontaine zum zentralen Thema seiner Rede gemacht hatte, hatte Schröder noch vor kurzem skeptisch festgestellt: „Internationale Ansätze sind begrüßenswert, scheitern jedoch häufig an nationalen Egoismen.“ Auch Lafontaines kaum verhohlene Forderung nach höheren Löhnen dürfte Schröder in den Ohren geklungen haben. Erst vor wenigen Tagen war er mit den Worten zitiert worden, wer höhere Löhne fordere, habe von Wirtschaftspolitik „keine Ahnung“.

Am Vorabend des Parteitags hatte Schröder auf dem Pressefest noch munter über die Kandidatenfrage gescherzt. „Meine Frau“, erzählte er, „wurde ständig von einem Mann angerufen, der nach dem Kanzlerkandidaten fragte. Doris antworte immer wieder: Mein Mann ist nicht Kanzlerkandidat. Als der Mann erneut anrief, sagte Doris: Wie oft soll ich Ihnen noch sagen, daß er nicht Kanzlerkandidat ist. Der Mann anwortete: Ich kann's nicht oft genug hören.“