Entschlackter Nymphenschinken

■ Starke Handlungsstränge und sinfonisch angelegte Stimmungsbilder: John Neumeier choreographiert Delibes– Sylvia als stromlinienförmige Amazone mit Kanten

Ein Ballett, das einen Wendepunkt in der Tanzgeschichte markiert und dennoch relativ unbekannt ist: In Léo Delibes' Sylvia, uraufgeführt 1876 in Paris, löste erstmals die starke, kämpfende Frau die ätherische Sylphide ab.

Der Emanzipationsgedanke habe ihn durchaus gereizt, als er den Auftrag annahm, das spätromantische Ballett für die Pariser Oper neu zu choreographieren, gibt John Neumeier zu. Nach der erfolgreichen Premiere im Juni dieses Jahres in Paris wird am 7. Dezember die Neubearbeitung für das Hamburg Ballett in der Staatsoper zu sehen sein. Delibes' Musik sagte Hamburgs Ballett-Intendant ebenfalls zu, schien wie geschaffen für dessen dramaturgische Vorlieben, bot einerseits Stoff für Handlungsstränge – erzählt in loser Anlehnung an Torquato Tassos Schäferspiel Aminta von 1573 – und inspirierte andererseits zu sinfonisch angelegten Stimmungsbildern.

Den ursprünglich „verschnörkelten Götter- und Nymphenschinken“hat Neumeier gründlich entschlackt. Stromlinienförmig, doch mit Ecken und Kanten kommt seine Titelheldin daher, gefolgt von einem modernen, athletischen Amazonenheer. Sylvia ist vom Bogenschießen besessen, hat sich ehrgeizig mit Haut und Haaren den strengen Regeln und Idealen der Göttin Diana, Neumeiers zweiter Hauptfigur, verschrieben – bis sie der Draufgänger Orion die Sinnlichkeit und der schüchterne Aminta die Liebe lehren. Doch auch die göttliche Meisterin wird hin und wieder schwach und ihren Prinzipien untreu.

Konfliktträchtige Psychologisierung mythischer Stoffe zieht sich wie ein roter Faden durch Neumeiers Werk. „Mich interessieren in erster Linie die Archetyp-Figuren“, sagt er. Das ewige Dilemma: die Welt Prinzipien unterordnen zu wollen und gleichzeitig danach zutrachten, die Götter zu entthronen. Schicksalhafte Eingriffe hat sich der Choreograph diesmal verwehrt: „Ich lasse die Widersprüche stehen, suche nicht nach Auflösungen.“Überhaupt habe er Sylvia in sehr freier, assoziativer Form choreographiert. „Es gibt drei Ebenen, vielmehr drei Gedichte, die sich ineinander schieben.“

Die unterschiedliche Besetzung, in der das Ballett bereits den Dezember über gezeigt wird, ist bemerkenswert. „Für mich demonstriert es die Stärke eines Ensembles, immer wieder andere Typen einzusetzen“, bestätigt John Neumeier. „Es ist das Ziel, jeweils eine Skala von Sylvias, Dianas und aller weiteren Figuren zu präsentieren.“Am Premierenabend werden Heather Jurgensen als Sylvia, Anna Polikarpova als Diana und Ivan Urban, charismatischer Nachwuchs-Stern am Hamburger Balletthimmel, in der Rolle des Aminta zu sehen sein.

Marga Wolff

Premiere: Sonntag, 7. Dezember, 18 Uhr, Staatsoper