Gespannte Oberfläche

Sechs Jahre nach seinem Tod erlebt der Philosoph Vilém Flusser eine Renaissance. Das Karlsruher ZKM zeichnete ihn mit dem Siemens-Medienpreis aus. Eine Tagung in Weimar untersuchte „Design und die Philosophie der Lebensformen“  ■ Von Ulrike Baureithel

Die „kopernikanische Wende“ von der Schrift- zur Bildkultur liefert ihr Krisenphänomen gleich mit. Denn im Zuge ihrer Digitalisierung verschiebt sich der alte philosophische Streit um die urteilsbildende beziehungsweise täuschende Kraft der Bilder eindeutig zugunsten ihrer instabilen, virtuellen Potenz. Die medial gebundenen, substanzlosen, in doppeltem Sinne „flüchtigen“ Bilder verweigern sich der „rationalen“ Linearität der Schrift. Im Bild-Punkt fällt – wie im Zeit-Punkt – Aktualität und Möglichkeit zusammen. Die „verflüssigten“ Bilder präfigurieren, wie der Weimarer Medienwissenschaftler Lorenz Engell am vergangenen Wochenende in Rekurs auf Deleuze meinte, eine neue Zeiterfahrung, die sich jenseits ihrer linearen Abfolge konstituiert.

Bereits vor über 30 Jahren sandte der damals noch ziemlich unbekannte Marshal McLuhan eine Flaschenpost aus, in der er behauptete, daß die „elektrische Implosion“ und ihre entstörten Bildoberflächen die Gesellschaft in einen neuen mythisch-magischen Zeit- und Erlebnisraum katapultiere. Entstört, weil das elektronische Bild auf nichts mehr verweist als auf sich selbst, es keine jenseitige Realität mehr birgt und sich der Suche nach einem „Dahinter“ entzieht.

Den Gralshütern der Schrift, die über drei Jahrtausende hinweg hinter der Erscheinung nach dem Wesen fahnden und die den Diskurs entlang der Achse des Außen- Scheins und Innen-Seins pflegen, war (und ist) diese Nachricht aus der Neuen Welt suspekt. Deshalb liefern sie deren Botschafter dem kulturkritischen Verdacht aus, nur noch Erweiterung ihrer theoretisch gefeierten Apparate-Existenz zu sein.

Im Falle des im November 1991 bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommenen Vilém Flusser liegt dieser Verdacht nicht ganz fern, wiewohl seine Phantasmagorien des Künstlichen, wie eine Arbeitstagung am vergangenen Wochenende an der Bauhaus-Universität in Weimar herausfand, ernst genommen werden sollten als Ausdruck einer Krise, die der Bewältigung harrt und die selbst Resultat einer Vernunft ist, die, so Flusser, geradlinig nach Auschwitz führt.

Flussers vielfältiges und widersprüchliches Werk, das derzeit in zwei konkurrierenden Ausgaben zusammengefaßt wird, seine schillernde Essayistik, die sich konsequent philosophischer Systematik verschließt, und seine unbedingte Verteidigung des Medialen gegenüber der Schriftkultur (die ihm übrigens kürzlich postum den Siemens-Medienpreis des Karlsruher ZKM einbrachte) strahlen eine Faszination aus, von der sich Vertreter der unterschiedlichsten Disziplinen illuminieren lassen. Darüber hinaus ist der 1920 in Prag geborene, 1940 nach Brasilien emigrierte und in den Siebzigern nach Europa zurückgekehrte jüdische Philosoph bei aller Besonderheit eben auch ein exemplarischer Fall der deutschen Intellektuellengeschichte.

Eben diese historisch-biographische Verortung muß mitgedacht werden, wenn man Flussers Feier des Nomadischen, seine theoriestiftende Flucht aus den (ursprünglichen) Bindungen, seine radikale Vernunftkritik und sein Einverständnis mit der Medienkultur thematisiert. Auschwitz bildet den Flucht- und Umkehrpunkt des Überlebenden, in Auschwitz hat die westliche Kultur, wie Flusser in seiner autobiographischen Sammlung „Bodenlos“ formuliert, „ihre Maske abgeworfen“. Das in der liberalen Denktradition als „Unfall“ deklarierte Ereignis ist in Flussers Geschichtsbild ein dem „Programm“ inhärenter „Zufall“, nicht Entartung also, sondern (wenn auch: extreme) Möglichkeit und insofern „Utopie“ westlicher Zivilisation.

Was jedoch, wenn sich Geschichte in ein laufendes „Programm“ verabschiedete? Wenn Auschwitz tatsächlich die zu sich selbst gekommene Vernunft ist? Der Ausweg, den Flusser dem Subjekt aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit weist, führt, wie Rainer Alisch in Weimar zeigte, ins Projekt des medienverkoppelten Entwurfs einer frei flottierenden, vernetzten und dialogischen Existenz. Inspiriert durch die nichtlineare, punktuell vernetzte Computierung der neuen Bildwelten entwickelt Flusser ein dem nachmetaphysischen Zeitalter verpflichtetes Erkenntnismodell, das sich ausschließlich an der Oberfläche orientiert und ihr nur noch insoweit „Bedeutung“ zumißt, wie diese rechenhaft zu entschlüsseln ist: „Wenn Bilder die Herrschaft übernehmen, wird jedes ontologische Problem zu einem falschen Problem.“ Der Anschluß liegt bar: Wer weg will vom Ursprung, darf sich nicht belasten mit gedachter oder materieller Vorgänglichkeit: „Das eigentliche Ziel aller Körperentwürfe“, erklärt Flusser im Band mit dem sprechenden Titel „Vom Subjekt zum Projekt“, „ist, den Körper so zu gestalten, daß man sich seiner bedienen kann, statt durch ihn den Objekten unterworfen zu sein. Sollte dies gelingen, wäre man nicht mehr Subjekt und könnte aufrecht und aufrichtig leben.“

Die schöne neue Medienwelt, eine schöne neue Männerwelt? Gewiß kein Zufall ist es, daß immer, wenn Flussers „Projekt“ eines dialogisch gestalteten und geschalteten Netzes, in dem wir künftig als punktuelle „Knoten“ floaten, auf seine sozialen Bedingungen hin untersucht wird, Ernüchterung Platz greift. Die „Wohnmaschinen“, die uns Flusser andient, stammen bekanntlich aus Bauhaus-Zeiten. Schon damals haben sich die avanciertesten Architekten Gedanken über die Wechselwirkung von Gebäuden und zwischenmenschlichen Beziehungen gemacht. Doch bei Flusser geht es, es sei daran erinnert, um ein „Projekt“: vorweggenommene Möglichkeit im Entwurf, mit dem Versprechen größerer Freiheit angesichts eines disziplinierten und zerfallenden Körpers.

Die Ausstrahlungskraft der Flusserschen Bild-Codierung auf eine Klientel, die mit der Ästhetisierung der Lebenswelten auch die Einbildungskraft rehabilitieren möchte, ist evident. „Design“ nicht nur als dingliche Formgebung, sondern als Rahmenbedingung von Gesellschaft zu lesen, schlagen Kunsterzieher wie Rainer Goetz in der Erwartung „ästhetischer Entscheidung“ vor. Die „neue bildermachende Geste“, so das Konzept, setzt uns ein als „Autoren unserer selbst“, und sie betrifft eben jene verletzliche „Grenze“ zwischen Innen und Außen, die Flusser zu perforieren trachtet: Nicht zuletzt sind es die Wohn-„häute“ und die textilen Körper-„häute“, das „Gewebe“ und das „Netz“, denen seine philosophische Einbildungskraft gilt.

Rehabilitiert wird, so scheint es, dabei nicht nur die apparativ geläuterte, subjektive Einbildungskraft, sondern auch ein romantischer Individualismus mit seinem Imperativ: „sei verschieden“. Die Aufforderung, Erfinder unserer selbst zu sein, ist nicht so neu wie Flussers Plädoyer für ein „aufrichtiges Leben“ im dialogischen „Netz“ glauben machen will. Im Spiel der „Vielheit“ gibt sich nämlich preis, wer bei der „Selbstüberschreitung“ an seine Grenzen gerät und, bei Strafe seines Untergangs, nicht mehr unterscheiden kann, was „echt“ ist und was „falsch“.

Die Spannfäden im Flusserschen Textgewebe sind nicht sehr festgezurrt, und wo sie, selten genug, ein ethischer Schußfaden durchquert, bleibt das Bild unscharf und löst sich in der flüchtigen „Punkterealität“ seines Denkens wieder auf. Will sagen, daß man bei Flusser Begriffe wie „Verantwortung“ kaum finden wird, wie er sich überhaupt programmatisch aller Wertesubstanz verschließt. Eben dies unterscheidet ihn von Theoretikern wie Habermas, was allerdings den ungewöhnlichen Vergleich, den Rüdiger Suchsland anstellte, nicht weniger spannend macht.

Ob sich das „Bildverbot“ der Kritischen Theorie, mit deren Tradition Habermas geschlagen ist, mit dem mythischen Bilderdenken des „Existentialisten“ Flusser versöhnen läßt, muß gar nicht die Frage sein. Beider „idealistischer Kern“ indessen zielt, wie es scheint, auf einen Kommunikationsbegriff, der dem spannungsfrei „räsonnierenden Publikum“, sei es institutionell abgesichert oder verwoben im digitalen Netz, letztlich wieder zu seinem Recht verhelfen will und es, zumindest potentiell, autark macht gegenüber den Zumutungen der Realität. Doch solch ideologiekritischen Verweise würden Flusser – mit Recht oder nicht – kaum anfechten, gerade weil er sich von den Bedingtheiten des Historischen abgesetzt hat. Die vorgestellte „Unschuld“ seiner technischen Artefakte beruht auf einer Denkbewegung, die dem Entropie-Modell von Zufall, Zerfall und Vergehen nachgebildet ist. Vom Ende zum Anfang, vom Untergang in die Erlösung, von Auschwitz in das mystische Paradies der Bilder: Elisabeth Nestwaldt hat die apokalyptische Struktur in Flussers Denken überzeugend aufgewiesen und gezeigt, wie die selbstlaufende kybernetische Maschine, an die sich das Subjekt einverständig anbindet und in der es „undifferenziert“, amorph wie das Wasser verschwindet, sich verselbständigt und allmächtig wird.

Insofern sprechen sich in Flussers medialen Überbietungsfiguren auch uralte Angstphantasien aus. Hierfür bürgt nicht zuletzt seine eigene „Textfläche“ und, wie die Textilwissenschaftlerin Annette Hülsenbeck kritisch anmerkt, Flussers auffälliger Rückgriff auf Metaphern der vorindustriellen Produktionssphäre: so als müsse das, wovon man sich hat befreien oder was man verfügbar hat machen wollen, zu guter Letzt doch noch irgendwie gerettet werden.