Die glorreichen Zeiten der Promiskuität

■ Beatnik John Giorno war dabei, als William Burroughs starb. Keith Haring lernte er in der U-Bahn kennen. Am Wochenende ist er in Heidelberg beim Festival experimenteller Literatur

„Wo warst Du, als John F. Kennedy starb? – Ich war mit Andy Warhol im Bett...“, heißt es in einem seiner Gedichte. Wer kann das schon von sich sagen? „Wo warst Du, als Diana starb?“, wurde er nach seiner Rezitation gefragt. „Alleine“, antwortete der Dichter. Alle seine Weggefährten sind inzwischen tot: Andy Warhol, William Burroughs, Allen Ginsberg, Jack Kerouac, Neal Cassady, selbst die jungen wie Robert Mapplethorpe, Keith Haring und Jean- Michel Basquiat.

John Giorno, einer der letzten Überlebenden der in New York hauptsächlich durch Aids ausgewischten Avantgarde, ist ein einflußreicher Vertreter der experimentellen Dichtung und Performance art. Seine exhibitionistisch- obszönen Texte, mit denen er in die Fußstapfen seines Freundes Burroughs tritt, wurzeln stilistisch im Rock'n'Roll und in der tantrischen Wiederholung einzelner Worte und Sätze: ein Versuch, unterdrückte Wünsche und Ängste zu artikulieren und zu befreien.

1968 erfand er „Dial-A-Poem“: Man wählte eine Nummer und hörte einen Dichter moderne, damals noch schockierende Gedichte vortragen – der erste literarische Telefonansagedienst sozusagen. 1971 rückte er mit Timothy Leary in die Top ten von Amerikas Staatsfeinden auf, als er für Radio Hanoi Radiosendungen produzierte, die an amerikanische Soldaten in Vietnam gerichtet waren. Bekannt wurde er auch durch „Sleep“, Andy Warhols Film, dessen Handlung sich auf Giornos Schlaf beschränkte.

Diese Woche kommt John Giorno nach Heidelberg zum 10. Festival für Experimentelle Literatur und Musik (am 5. und 6. Dezember, Deutsch-Amerikanisches Institut). Im Oktober war er das letzte Mal in Deutschland. Seine Tour startete in Rosenheim, nicht gerade einer Hochburg avantgardistischer Literatur. In der Städtischen Galerie erfuhr das Publikum, wie er und Andy Warhol sich die Zeit vertrieben („erst leckte er meine Schuhe, dann meine Eier...“) und wie das mit dem Tod William Burroughs' war: „Ich war bei ihm, als William starb, wir hatten eine tolle Zeit [...] Was in seinen Sarg kam? Sein Lieblingsrevolver, eine geladene 38er [...] Wir zogen ihm die besten seiner versifften Klamotten an, Geld für den Weg in die Unterwelt, einen Joint mit wirklich gutem Gras, jemand steckte ihm noch eine kleine Tüte Heroin in die Tasche und sagte, da, wo er hingeht, wird ihn keiner hochgehen lassen [...].“

Das muß man natürlich von Giorno in seiner rhythmischen Vortragsweise hören. Wenn er zum Beispiel von jener U-Bahn- Station in New York erzählt und die kleinsten Details ausbreitet, wie die Herren, statt auf dem Bahnsteig zu warten, die Zeit in der Toilette totschlugen, verfehlt das sogar auf Hartgesottene nicht seine Wirkung. Fast charmant erzählt er, wie er auf jenem Männerklo Keith Haring kennenlernte, dem er erst die Etikette der U-Bahn-Schwulenszene erklären mußte, als der sich vorstellte, obwohl doch strikte Anonymität zum Reiz gehörte.

Nach Rosenheim trat Giorno noch in Berlin, Hamburg, Bremen und Zürich auf. Das Publikum im Roten Salon der Volksbühne am Berliner Rosa-Luxemburg-Platz war zwar weniger schockiert als das in Rosenheim, wußte aber zum Teil nichts mit Giornos verbalem Exhibitionismus anzufangen. Dazu muß man allerdings auch die ursprünglichen Motive kennen, die so unterschiedliche Persönlichkeiten wie Giorno, Ginsberg und Burroughs zusammenführten. Die Nacktheit, das Ausziehen bis auf die Seele – aus Protest gegen „amerikanische Tugenden“ –, war der kleinste gemeinsame Nenner der Beat generation. Das zeigte sich, wie John Tytell in „Propheten der Apokalypse“ schreibt, „in Ginsbergs schonungsloser Selbstpreisgabe in einem Gedicht wie ,Kaddisch‘, in Burroughs' Weigerung, in ,Naked Lunch‘ die dämonischen Aspekte seiner Sucht zu verschleiern [...]. So entkleidete sich Allen Ginsberg bei Dichterlesungen, und Kerouac schrieb einmal, daß er wie der mittelalterliche Mönchsgelehrte Milarepa sein wolle, der nackt in Höhlen lebte – und als höchste endgültige Bekräftigung wurde Neal Cassady nackt und tot neben Eisenbahnschienen in Mexiko gefunden.“

Auch die Nähe von Exhibitionismus und Wahnsinn muß einem bewußt sein, um Giornos Dichtung zu verstehen. Die Beatniks haben auf das Zeitalter der Atombombe, des Konsums, des kapitalistischen Imperialismus mit der Erkenntnis reagiert, daß Wahnsinn die einzige Zuflucht für diejenigen ist, die normal bleiben wollen.

Verklärt sinnt Giorno den „glorreichen Zeiten der Promiskuität“ nach. Um einige der Spätfolgen dieser Epoche aufzufangen, hat Giorno 1984 das „Aids Treatment Project“ gegründet, das Kranke finanziell unterstützt. „Mit der gleichen Selbstverständlichkeit, wie wir damals mit völlig Fremden Sex hatten, müssen wir heute tätiges Mitgefühl mit Fremden zeigen, die Aids haben“, sagt er und signiert sein Buch mit dem Titel „Cancer In My Left Ball“. Er schreibt hinein: „Life is a Killer.“ Alexander von Schönburg