Short cuts mit mit dem Phantasietier Hallucigenia

■ Jetzt ganz in Ruhe zu erlesen: Arbeiten des documenta-Künstlers Martin Walde bei Claassen-Schmal

Schon im Sommer waren die räudig-rißkantigen Butterbrotpapiere von Martin Walde, mit zögerlichen Bleistiftstrichen befleckt und mit Stecknadeln provisorisch an die Wand gepinnt, deutlich herauszuschmecken aus dem poly-ester- und spanholzschweren Kunsteintopf der documenta. Es war ein tränensalziger Geschmack, ganz wunderbar scheißsentimental wie Paul Auster-Gestalten. Jetzt kann man sich den Österreicher unter der düsteren Stuckdeckenpracht der Galerie für Gegenwartskunst Barbara Claassen-Schmals in Ruhe erlesen. Text gibt's genug.

Walde hält sich oft in New York auf und mutiert dort zum Fundstück-Romantiker. Flüchtigkeiten der Straße scheinen ihn zärtlich-melancholisch zu stimmen.

Allerdings sind es keine zerdrückten Bierdosen, rostigen Nägel oder löchrigen Handschuhe, aber etwas ähnliches, nur in Fleisch und Blut übersetzt: flüchtige Momente aus den diversen Leben von Losern.

Auf Papier, transparent wie die dünnhäutigen Seelen, erzählt Walde nicht Geschichten, sondern Gesten: Wie ein Mann die leere Luft anschreit, „screaming like a bird“; wie ein anderer Mann in der Metro auf sich selber einschlägt; wie eine Lady auf einem Hochhaus an ihrem Minirock zupft und gefährlich über die Brüstung schielt; oftmals verfestigte Bewegungsrituale von Außenseitern, so weit weg von gängigen Konfliktaustragungsformen, daß sie nicht mehr psychologisierbar sind.

Der Gipfel aller Einordungsverweigerung aber ist die Hallucigenia. Das 500 Millionen Jahre alte Viech ist uns als Versteinerung überliefert. Klarheit besteht über sein Aussehen. Der Rest ist ominös. Wo ist der Kopf? Hat es überhaupt einen Kopf? Brauchen Wesen einen Kopf? Mit unserer Vorstellung vom Säugetier als Musterbild aller Tiere, neigen wir zu falschen Zuordnungen.

Zuordnungen verkneift sich Walde allerdings bei seinen Short cuts aus dem Metro-Untergrund-Alltag. Er wählt die Form des Comics, knapp, lakonisch.

Anstelle der comic-typischen Ökonomie des Wortes aber wiederholen sich seine Sätze gerne. Schließlich lau-ert auch in unseren Köpfen und Muskeln die ewiger Wiederkehr des Gleichen. Besonders nett: Da behauptet einer, daß er einen Fehler niemals zweimal macht – und behauptet den Stuß nicht nur zweimal, sondern gleich dutzendfach – in einer Sport-Umkleidekabine.

„Ich will keine Persönlichkeiten entwerfen, sondern mir kleine, aufschlußreiche Augenblicke angeln“: so spricht die Ästhetik von Waldes Bildern zu uns, wo immer es geht. Zeichnungen rückt Walde oft an den Rand. Schrift ist krakelig wie bei Tagebuch-im-Bett-Aufzeichnungen. Durch poröse Fotokopien von Fotos huschen undeutlich hingetuschte Phantome.

Und weil Walde die Flüchtigkeit des Moments vielleicht am liebsten für heilig erklären würde, wirft er, wo immer er ausstellen darf, biegsame Gummipeitschen in die Luft und dokumentiert mit dem Fotoapparat die Verschlingungsmuster des Zufalls.

So fügen sich in Waldes komischen Gummiobjekten und Fotos aufs beste mit seinen Asphaltcowboy-Comics. Und liebevoll lacht dazu die grüne Gummihallucigenia. Aber lassen wir diese Einordnungen. Barbara Kern

Galerie für Gegenwartskunst in der Bleicherstr. 55, bis 20. Dezember, dienstags bis freitags 14-18 Uhr, samstags 12-14 Uhr