Nang Guak kann nicht helfen

Seit Thailand in der Krise steckt, kann auch die Schutzpatronin der kleinen Händler die Kunden nicht mehr herbeiwinken. Ein Anwalt muß seine Kinder wieder auf die staatliche Schule schicken und sich als Koch durchschlagen  ■ Aus Bangkok Jutta Lietsch

Roter und gelber Curry, duftende Grillfische, scharfe Saucen, schneeweißer Reis und knallgrüner Tapioca-Kuchen: Vor Sonnenaufgang eröffnet Tim Chamtanglong jeden Morgen ihren kleinen Imbißstand am großen Markt von Huay Khuang. Hier ist Bangkok weder besonders schick noch besonders verkommen, nicht reich und nicht sehr arm. Zwei- bis dreistöckige Häuserreihen säumen die Straßen, im Erdgeschoß liegen Schneidereien, Uhrmacher, Goldgeschäfte, Pfandhäuser und Restaurants, darüber wohnen die Besitzer. In den Nebengassen stehen Geisterhäuschen vor Wohnhäusern, versteckten Bordellen und kleinen Gewerbebetrieben.

Seit zwanzig Jahren bekocht Tim am Straßenrand die Händler, Tuktuk-(Dreiradtaxi)-Fahrer, Marktbesucher und Familien aus den Wohnblocks hinter dem Markt. Ihr bescheidenes Geschäft besteht aus einem Tisch mit Gaskocher und ein paar Schemeln. Die meisten Kunden tragen das Essen in Plastiktüten davon. Über Tim, in der Astgabel eines Baumes, sitzt ein Gipsfigürchen: Nang Guak, Schutzpatronin der Kaufleute, die „Dame, die Kunden herbeiwinkt“.

In diesen Tagen kann auch Nang Guak der Imbißverkäuferin nicht helfen. Die Geschäfte gehen schlecht. Tims Stammkunden laufen immer öfter an ihrem kleinen Stand vorbei, „weil sie sich mein Essen nicht mehr leisten können“, sagt die zierliche 43jährige müde. Dabei sind die Portionen billig: Schon für 20 Baht (rund eine Mark) kann man sich satt essen. Noch im Frühjahr verdiente Tim täglich bis zu 25 Mark, 15 mehr als der offizielle Mindestlohn. Ihr Mann, der für einen Supermarkt Waren ausliefert, brachte weniger nach Hause. Die Familie konnte damit zwar nichts sparen, aber die drei Kinder zur Schule schicken.

Doch seit diesem Sommer steckt Thailand in einer tiefen Wirtschaftskrise. Währungs- und Aktienkurse stürzten in den Keller. Finanzinstitute wurden geschlossen, Firmenpleiten häuften sich. Der Internationale Währungsfonds (IWF) gewährte einen 17,2-Milliarden-Dollar-Kredit, um das Land vor dem Bankrott zu bewahren. Nun ist auch für die Leute von Huay Khuang die Welt aus den Fugen geraten. Plötzlich schossen die Preise in die Höhe. Weil die Kunden ausblieben, machten bereits einige Marktstände zu. Viele Tuktuk-Fahrer sitzen arbeitslos herum und zerbrechen sich den Kopf, wie sie die Tagesmiete von 14 Mark für ihr Gefährt aufbringen können. „Die Leute überlegen es sich zweimal, ob sie einsteigen“, sagt einer.

Tim, die zu jener Mehrheit der ThailänderInnen gehört, die vom Wirtschaftsboom in den letzten Jahren kaum einen Zipfel zu fassen bekamen, erlebt die Krise ohnmächtig und als schleichende Katastrophe. Mit ihrem Imbiß verdient sie jetzt höchstens 10 Mark am Tag, manchmal bleibt gar nichts übrig. Dabei ist das Propangas zum Kochen innerhalb von fünf Monaten um die Hälfte teurer geworden. Die Preise für Speiseöl, Reis, Gemüse und Fisch sind ebenfalls gestiegen. Nur das „Schutzgeld“ an die lokale Mafia, die hier die Straßen kontrolliert, ist gleichgeblieben: 50 Mark im Monat.

„Ich weiß nicht, wie es weitergehen soll“, sagt Tim. Eine Ahnung hat sie allerdings: Zuerst geht es zum Pfandhaus, dann wird sie sich immer tiefer verschulden. Nicht bei der Bank, von der sie als Kleinhändlerin auch in guten Zeiten keinen Kredit erwarten konnte, sondern beim privaten Geldverleiher — zu Wucherzinsen von zwanzig Prozent im Monat.

1,5 Millionen Menschen werden bis zum nächsten Jahr arbeitslos, prophezeit die Regierung. Hunderttausende haben bereits ihre Jobs auf Baustellen, in Boutiquen, Banken, Hotels, Restaurants und Fabriken verloren – oft von einem Tag auf den anderen. Wie schnell und schmerzlich dies funktioniert, erlebten kürzlich die 150 Angestellten der Laemthong-Reederei, deren Expreßboote bislang auf dem Chaophraya-Fluß in Bangkok verkehrten. Ohne Vorwarnung teilte der Geschäftsführer den Fährleuten mit, sie brauchten am nächsten Morgen nicht wiederzukommen. Die Besitzer, darunter ein Vizeinnenminister, hatten beschlossen, der Betrieb sei nicht mehr lukrativ genug. Viele der Beschäftigten verdienten ohnehin nur einen Hungerlohn von weniger als 200 Mark im Monat. Ob sie eine Abfindung erhalten, ist zweifelhaft.

Arbeitslosengeld gibt es nicht. Die Opfer der Krise akzeptieren ihr Schicksal bisher nahezu klaglos, Massenproteste gibt es nicht. Wer sollte sie auch organisieren? Die Gewerkschaften sind schwach und zersplittert, die Regierung ist nicht verantwortlich zu machen: Premierminister Chuan Leekpai ist erst seit knapp einem Monat an der Macht, nachdem sein Vorgänger wegen der Wirtschaftskrise zurücktreten mußte. So versucht jeder, sich irgendwie durchzuschlagen.

„Geht aufs Land zurück!“ raten die Politiker in Bangkok den ehemaligen Bauern, die in den Jahren des Booms in die Metropole geströmt waren, um sich als Tagelöhner ein Stückchen vom Wohlstandskuchen abzuschneiden. Das Landwirtschaftsministerium hat jetzt ein „Wasser und Seele“-Projekt ersonnen, in dem Arbeitslose in ihren Heimatprovinzen ein kleines Stück Staatsland erhalten und dort Reis oder anderes anpflanzen sollen.

Nicht alle haben soviel Glück wie die 44jährige Lam Duan, die auf dem Markt Nudeln verkauft. „Mein Geschäft ist krisensicher“, sagt sie. Die Kunden kommen wie immer. Sie hat frische und trockene, weiße und gelbe, breite und hauchdünne Nudeln, dazu Sojasprossen, Tofu, Fischsauce im Angebot. Seit neun Jahren steht sie hier, arbeitet ununterbrochen, prüft, ob die Sprossen sauber sind, wiegt ab, kassiert, füllt nach. Sie hat in einen thai-chinesischen Kaufmannsclan eingeheiratet – ein Leben mit strengen Regeln, zugleich aber bietet die Familie ein soziales Netz für den Fall, daß die Krise auch sie erwischen sollte: Die Nudelfabrik ihrer Schwiegermutter liefert die Ware. Wenn Lam Duan einen Kredit braucht, wendet sie sich an den älteren Bruder ihres Mannes, das Oberhaupt der Familie. „Der entscheidet alles.“ Ihre zwei Söhne und die Tochter schickt sie in Privatschulen. Sie wird sich auch im nächsten Jahr die 3.000 Mark Schulgebühr leisten können, versichert sie gelassen.

Welten liegen zwischen dem Markt von Huay Khuang und der Silom-Straße im Geschäftzentrum von Bangkok, wo sich Bürohochhäuser, Einkaufspassagen, Banken, Touristenhotels und Rotlichtviertel drängen, wo Banker und Aktienhändler gegen die Regierung demonstrierten und die Krise vor allem als Absturz aus der Welt der Gucci-Klamotten und des Zweit-Mercedes erlebt wird. Dort ist der bankrotte Börsenmakler Sirivat Voravetvuthikun mittlerweile zur Berühmtheit geworden. Wie so viele andere hatte er sich mit kühnen Immobiliengeschäften ruiniert, jetzt verkauft er gemeinsam mit früheren Angestellten selbstbelegte Sandwiches. In den thailändischen Medien gilt er als ermutigendes Beispiel unter all den ruinierten Kaufleuten, die in Depressionen versinken oder sich von ihren gläsernen Bürotürmen stürzen.

Kaum einer der plötzlich verarmten Millionäre mag öffentlich zugeben, wie schlecht es um ihn steht. Zuerst bot der 48jährige Sirivat seine Brote vor einem Bangkoker Krankenhaus an, nachdem alte Geschäftsfreunde für ihn ein gutes Wort eingelegt hatten, damit er dort seinen Stand eröffnen durfte. Inzwischen konnte er einen dritten Stand eröffnen, günstig gelegen auf der Silom-Straße.

Glück hatte auch der 42jährige Anwalt Marut Tanitpalakul, dessen Klienten wegblieben und der beim Börsensturz im Sommer 150.000 Mark verlor: Seine Frau Kulanart, Buchhalterin in einer französischen Elektronikfirma, hatte sich gerade mit einem kleinen Steakrestaurant namens „Möhre“ am Stadtrand von Bangkok selbständig gemacht. Anstatt an Schriftstücken zu feilen und die Aktienkurse zu studieren, steht er nun in der Küche, brutzelt Steaks und schnippelt Salate. „Wenn die Krise vorbei ist“, sagt die 40jährige Kulanart, werde ihr Mann wieder zurück in seine Anwaltspraxis gehen. Zu den schwierigsten Entscheidungen in ihrem neuen sparsamen Leben zählte es, die beiden Kinder aus der teuren Privatschule zu nehmen.

Das tun inzwischen viele Eltern. Im kommenden Semester werden, schätzt die Erziehungsbehörde, Hunderttausende Kinder mehr als sonst in die Staatschulen strömen. Die sind meist miserabel ausgestattet, die Lehrer unterbezahlt. Jetzt hat die Regierung auch noch ihr Budget drastisch gekürzt, weil der IWF ein hartes Sparprogramm vorschreibt.

Im feinen Pacific-Club von Bangkok, wo sich Politiker und Banker, thailändische Industrielle und ausländische Firmenrepräsentanten zwischen europäischer Eiche und Jugendstilambiente treffen, hält Thanong Bidaya einen launigen Vortrag über seine Erfahrungen im Regierungskabinett. Er war im Oktober von seinem Posten als Finanzminister zurückgetreten, weil er nicht die vom IWF verlangten höheren Benzinsteuern durchsetzen konnte. „Niemand wollte glauben“, erzählt er, „wie schlimm es wirklich um die Wirtschaft steht.“ Als der IWF den Milliardenkredit zusagte, „kamen die Minister zu mir und sagten: Wann kommt das Geld, wann können wir es ausgeben?“

Bei Lachs und Sushi beklagt eine Zuhörerin, Finanzmaklerin eines bisher noch nicht geschlossenen Geldhauses, daß sie keine Jahresprämie erwarten kann. In den Boomjahren kassierte sie oft mehr als zwölf Monatsgehälter zusätzlich. „Nun kann ich froh sein, daß ich noch einen Job habe.“ „Die Probleme haben erst begonnen“, warnt der Exminister. Unter dem Sparprogramm des IWF werde „im nächsten Jahr keine Straße gebaut, alle Projekte sind gestoppt“. Dann werde die Krise erst richtig spürbar. Bislang „haben viele immer noch die Hoffnung, daß der Sturm an uns vorbeigeht“.

„Frag mich nicht nach der Zukunft“, sagt die Imbißverkäuferin Tim in Huay Khuang. „Ich lebe von Tag zu Tag.“ In diesen Zeiten, findet sie, ist es nicht gut, zuviel zu grübeln. „Wenn ich meine Kinder durchbringe, bin ich schon zufrieden.“