Keiner will die Obdachlosen im Winter haben

■ Ratlosigkeit auf der letzten „Armutskonferenz“: Arbeitsgruppe des Ökumenischen Rates fordert offene U- und S-Bahnhöfe. BVG und S-Bahn haben die jährliche Buhmannrolle satt

Die U- und S-Bahnhöfe werden auch in diesem Winter nicht für Obdachlose geöffnet. Einzige Ausnahme unter gewissen Bedingungen: sibirische Winterkälte um die 20 Grad unter Null. Das betonten Vertreter der BVG und S-Bahn auf der letzten Sitzung der „Armutskonferenz“, einer regelmäßig tagenden Arbeitsgruppe innerhalb des Ökumenischen Rates Berlin-Brandenburg.

Die Arbeitsgruppe hatte kürzlich Vertreter beider Unternehmen eingeladen, um über „Vorkommnisse im Bahnhofsbereich“ zu sprechen. Diese könne „man durchaus als Übergriffe und menschunwürdige Behandlung von Obdachlosen durch die in Ihrem Auftrag tätigen Sicherheitsdienste bezeichnen“, hieß es im Einladungsschreiben.

Sowohl die BVG als auch die Deutsche Bahn AG wiesen diese Vorwürfe jedoch zurück. Sie pochen auf ihr Hausrecht, auf Sauberkeit und Ordnung und fühlen sich an den Pranger gestellt. „Kaum wird es kalt, sollen wir wie selbstverständlich die Bahnhöfe öffnen“, sagte Norbert Klempert (58), Betriebsleiter der U-Bahn und Projektleiter Sicherheit bei der BVG. „Wir werden dafür sorgen, daß diese Leute rauskomplimentiert werden“, stellte er klar. Begründung: „Wir brauchen als modernes Dienstleistungsunternehmen saubere und sichere Bahnhöfe.“

Wie auch seine Kollegen von der Deutschen Bahn AG machte Klempert immer wieder das Hausrecht geltend. Das besage eindeutig: „Das Verweilen von Personen auf dem Bahnhof, das nicht dem unmittelbaren Fahrtantritt dient, ist nicht gestattet“, so der BVG- Mann. Und die öffentliche Ordnung sei nicht sichergestellt, wenn Obdachlose im Bahnhof urinierten oder auf Bänken schliefen. Klempert: „Wir geben jährlich 30 Millionen Mark für Sauberkeit aus, das sind Kosten, die wir nicht länger hinnehmen können.“

Damit stößt der BVG-Mann bei Dietmar Schmidt (44), kaufmännischer Niederlassungsleiter der Deutschen Bahn AG, auf offene Ohren: „Wir können unseren Kunden in Schöneweide, die zum Flugplatz wollen, nicht zumuten, daß alle Bänke belegt sind oder daß es in der Bahnhofshalle stinkt. Schon von daher ist eine Vertreibung der Obdachlosen notwendig.“

Diese Politik ist inzwischen gängige Praxis. „Monatlich werden in unserem Bereich etwa 18.000 bis 20.000 mündliche Bahnhofsverweise ausgesprochen, etwa 20 bis 50 Personen erhalten eine Anzeige wegen Hausfriedensbruch“, so BVG-Pressesprecher Klaus Wazlak. Allein am Bahnhof Zoo, auf dem Gelände der Deutschen Bahn AG, werden Monat für Monat rund 5.000 Platzverweise ausgesprochen. Bis zu 150 Bahnhofsverbote kommen hinzu, nicht gerechnet die Anzeigen wegen Hausfriedensbruch.

Harsche Kritik hagelte es von den Konferenzteilnehmern am Verhalten der Sicherheitsdienste. Immer wieder käme es zu Gewalttätigkeiten und menschenunwürdigen Handlungen gegenüber Nichtseßhaften. „Man kann diese Menschen doch nicht entsorgen wie Altkleider“, ist sich die Arbeitsgruppe einig. „Wo sollen arme Menschen denn betteln, draußen in Zehlendorf vielleicht?“ fragte Ruth Keseberg-Alt vom Caritasverband und verwies auf eine Umfrage aus Baden- Württemberg von 1992: Danach fühlen sich nur 17 Prozent der Befragten von Nichtseßhaften gestört, aber 82 Prozent lehnen die Vertreibung von Obdachlosen aus der Innenstadt ab.

Pfarrer Theodor Klemens von der Brüdergemeinde Neukölln forderte daher, daß sich der Wachschutz auf seine ureigensten Aufgaben beschränken solle, nämlich kriminelle Handlungen zu verhindern. Für die Sauberkeit brauche man keinen Wachschutz.

Von tatsächlichen Übergriffen sei ihm nichts bekannt, erklärte BVG-Mitarbeiter Klempert auf Nachfrage. Den Schuh des bösen Buben will er sich, wie sein Kollege Dietmar Schmidt von der Deutschen Bahn, nicht anziehen: „Ich sehe hier ein großes soziales Problem, und es kann nicht angehen, daß das immer auf unseren Schultern abgeladen wird.“

Der BVG-Mann fühlt sich von der Politik allein gelassen. Klempert: „Natürlich ist mir auch klar, daß das Problem nur verlagert wird, wenn wir Obdachlose oder Dealer vom Bahnhofsgelände verweisen. Aber was sollen wir denn machen?“ fragte er in Richtung der Politiker, die nicht müde werden, saubere und sichere Bahnhöfe einzufordern, „mehr Unterstützung seitens der Politik und der Sozialbereiche wäre hier wünschenswert“. Michael May